Südtirol in einem neuen europäischen Regionalismus

 „25 Jahre Streitbeilegung 1992 – 2017

Ist das Südtirolproblem gelöst?

 

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Verlag Dr Kovic, Hamburg 2018

In dieser Publikation erschien u.a. folgender Beitrag

Michael Breisky:

Südtirol in einem neuen europäischen Regionalismus

 

 

Von Mag. Andreas Raffeiner eingeladen, für seinen Sammelband „25 Jahre Streitbeilegung 1992-2017 – Ist das ‚Südtirolproblem‘ gelöst!?“ einen Beitrag zu verfassen, war ich zunächst eher ratlos – hat mir doch meine berufliche Karriere wenige Monate nach der Streitbeilegung – an der ich als Leiter der Südtirol-Abteilung in Wiener Außenministerium und Vorsitzender der sogenannten „Paket-Prüfungs-Kommission“ meinem Minister Alois Mock assistieren durfte – ganz andere Aufgaben gestellt; auch bin ich nun schon seit 2005 in einem eher unruhigen Ruhestand (unruhig, weil ich nun als Apostel Leopold Kohrs aktiv bin, des Philosophen des menschlichen Maßes).

Allerdings hat mir die Zeit als österreichischer Botschafter in der Republik Irland von 1993 bis 1999 die Möglichkeit gegeben, das in vieler Hinsicht sehr ähnliche Nord-Irland-Problem mit der „Südtirol-Brille“ zu verfolgen und daraus Schlüsse für eine europäische Minderheiten-Politik zu ziehen. Diese habe ich 1998 in der Studie “Dealing with minorities – a challenge for Europe“ veröffentlicht,[1] die auch auf meiner Homepage zu finden ist.[2] Diese Studie schließt mit dem Absatz:

If everything is well in South Tyrol, can we close the file? Frankly, I do not know. There are visible challenges ahead that have to be mastered, like allowing South Tyrol to engage in European regionalism, in my eyes an area where we shall witness much more movement in future. Rome is sceptical, however, about this form of emancipation and very critical of enhanced regional cooperation among the three constituent parts of old Tyrol – North and South Tyrol plus the Trentino. Possibly, Italy fears a trend to self-determination or even secession similar to that proposed by the Lega Nord. Looking at it positively, I would say political questions are never completely answered, they just gain relief from the arrival of more urgent questions. 

In this sense, the file concerning South Tyrol cannot be closed, but the survival of the Austrian mi­nority in Italy does not figure among today’s urgent questions; instead, people with similar problems are invited to look into this file”.

Schon Silvius Magnago hat betont, dass Minderheitenprobleme nie endgültig gelöst werden und hat dazu seine Hubschrauber-These entwickelt: Sollte das Überleben der Südtiroler Minderheit in Italien davon abhängen, dass Italien jedem Südtiroler einen Hubschrauber zur Verfügung stellt, dann ist Italien verpflichtet, das auch tatsächlich zu tun, was auch immer das koste. In diesem Sinne kann ich auch heute feststellen. dass die Konklusion meiner nun schon zwanzig Jahre zurückliegenden Studie „passt“: Das Überleben der österreichischen Minderheit in Italien (1946 das Grundanliegen des Pariser Vertrages!) erscheint auch heute voll gesichert zu sein – aber so wie der Mensch nicht vom Brot allein lebt, so würde das bloße Überleben für eine Minderheit nicht der wesentlich höheren politischen Qualität entsprechen, die man sich von einem blühenden Europa erwartet.

Offenbar unter dem Eindruck der Globalisierung mit ihrer Tendenz zu Digitalisierung und Abstraktion sollte diese höhere Qualität in einem Mehr an Bürgernähe und Demokratie liegen. Wie nicht zuletzt Fürst Hans Adam II. von und zu Liechtenstein in seinem Buch „Der Staat im dritten Jahrtausend“ in diesem Sinne überzeugend dargelegt hat, liegt die Zukunft eines demokratischen Staates in überschaubaren Strukturen und der radikalen Umsetzung des Subsidiaritätsprinzips – daher auch sein Hinweis, dass die Verfassung Liechtensteins jeder Gemeinde das volle Recht auf völkerrechtliche Selbstbestimmung gibt. Ist das doch die beste Garantie, dass dieses Recht niemals in Anspruch genommen wird; denn es zwingt die Zentral-Macht, mit der Lokal-Macht auf Augenhöhe zu verkehren – zum Wohle aller Bürger und letztlich auch zur Erleichterung aller Staatskanzleien, die sehr wohl um die Kosten und Risiken überzogener Selbstbestimmungs-Forderungen wissen.

Womit wir bei der Katalonien-Krise wären, die gerade zu eskalieren begann, als mich Ende Oktober 2017 die Einladung Mag. Raffeiners zu diesem Beitrag erreichte. Im Frühstadium dieser Eskalation hat mich die harte Rede von König Felipe überrascht und vermuten lassen, dass ihm sein Premierminister Rajoy womöglich einige Passagen aus dem Manuskript gestrichen hat; zum einen ein paar Sätze auf Katalanisch, zum anderen eine wichtige Feststellung: In der Demokratie darf nichts gegen das Recht oder ohne Recht geschehen, aber Recht darf nicht „alles“ sein.

Denn laut dem Böckernförde-Syndrom setzt der liberale Verfassungsstaat Dinge voraus, die er weder selbst schaffen noch garantieren kann – nämlich den Gemeinsinn (ähnlich habe ich in der erwähnten Minderheiten-Studie in Anlehnung an Rousseaus contrat social von einem contrat nationalgesprochen). Dieser Gemeinsinn ist vor allem kulturell definiert, was der gemeinsamen Interpretation der eigenen Geschichte eine besondere Rolle zuweist; er ist derzeit offenbar in ganzSpanien dabei zu erlöschen. Wenn er dort wiederbelebt werden kann, dann wohl nur in der Kombination von Zeitschinden und realistischer Hoffnung auf noch mehr Autonomie der Katalanen – und dann wohl auch anderer Regionen.

Um es auch für Südtirol auf den Punkt zu bringen: So wie an der Zukunft orientierte Zentralregierungen ihren Regionen eine reich ausgestattete Autonomie gewähren, um einer über Sonntagsreden hinausgehende Selbstbestimmungs-Diskussion den Boden zu entziehen; so müssen an der Vergangenheit ausgerichtete Zentralregierungen mit immer stärker ins Irrationale absinkenden Selbstbestimmungs-Bestrebungen rechnen, wo sie nicht genug Regional-Autonomie gewähren.

Alle aktuellen Selbstbestimmungs-Bewegungen – von Flandern über Schottland zu Katalonien und den Regionen im nördlichen Italien, natürlich auch in Südtirol, haben eines gemeinsam: Sie wollen in die EU und dort aktiv mitgestalten, stoßen aber bestenfalls auf verlegenes Schweigen der EU-Mitgliedsstaaten. Der wohl wichtigste Grund für Letzteres ist die Sorge um die Funktionsfähigkeit der EU-Ministerräte und des Europäischen Rates: Mit ihren 28 und bald (nach Brexit) 27 Mitgliedern sind diese Institutionen kaum mehr in der Lage, ihrer Verantwortung für die operativen Entscheidungen der EU gerecht zu werden; für eine echte Reform, die zu einer Verkleinerung dieser wichtigsten Institutionen führen würde, fehlt jedoch der politische Wille. Das ist schon schlecht für die offiziellen EU-Beitrittskandidaten am Balkan, und noch schlechter für ähnliche Aspirationen vieler EU-Regionen (die Unterstützung der Selbstbestimmung des Kosovo durch die meisten EU-Staaten ist ein schwaches Gegenargument, da der Entwicklungsstand dieses Landes einen EU-Beitritt erst in fernerer Zukunft erwarten lässt).

Wie können unter diesen Umständen die Regionen für ihre Kompetenzen trotzdem zu Entscheidungsträgern auf EU-Ebene werden? Ja, es gibt den Europäischen Ausschuss der Regionen, dieser ist jedoch nur ein beratendes Organ, das den großen Entscheidungen der EU nur zuarbeiten kann; die wesentlichen Entscheidungen fallen weiterhin im Europäischen Rat und den EU-Ministerräten als den Organen der nationalen Regierungen. Das ist unbefriedigend und nur sehr schwer zu ändern; denn weder wäre es praktikabel, dem Ausschuss der Regionen mit seinen 350 Mitgliedern nun auch operative Kompetenzen wie in den EU-Räten zu geben; noch kann erwartet werden, dass die Nationalstaaten die überragende Stellung ihrer EU-Räte zu Gunsten der Regionen aufgeben.

Nun werden im Idealfall die EU-Mitgliedsstaaten ja bemüht sein, die Interessen ihrer Regionen auch auf EU-Ebene bestmöglich zu vertreten. Das geht so weit, dass diese Staaten im Sinne von Artikel 16 Abs. 2 des EU-Vertrages einem Vertreter ihrer Bundesländer oder ähnlich verfassten Regionen erlauben können, bei Angelegenheiten, die voll in deren Kompetenzbereich fallen, bei EU-Ratssitzungen an ihrer Stelle teilzunehmen und abzustimmen. Allerdings trifft dieser Idealfall oft nicht zu, sei es weil der Nationalstaat der Region diese Möglichkeit aus politischen Gründen verwehrt; oder weil es dem Staat nicht gelingt, widersprüchliche Interessen seiner Regionen unter einen Hut zu bringen. So zum Beispiel, wenn größere EU-Mitgliedsstaaten starke topographische und klimatische Unterschiede aufweisen, wie das bei Frankreich und Italien der Fall ist: ihre hochalpinen Regionen haben ganz besondere Eigenheiten und Bedürfnisse, die oft in natürlicher Konkurrenz zu den Interessen der Mehrheit im gesamten Staatsgebietes stehen.

Eine solche Situation wurde meiner Erinnerung nach bei den britisch-irischen Verhandlungen zum Karfreitags-Abkommen von 1998 zu Nord-Irland eingehend diskutiert, dann aber doch nicht realisiert: über Antrag der nord-irischen Regionalregierung sollte die Republik Irland demnach berechtigt sein, in Brüssel bei Tagungen bestimmter EU-Fachminister auch für Nord-Irland zu sprechen. Heute sollte dieser Ansatz bestechend sein: einerseits könnten sich Regionen den für sie günstigsten Staatenvertreter in den EU-Ministerräten aussuchen; andererseits bleibt aber die zentrale Rolle der Staatenvertreter im EU-System unangefochten. So könnten die alpinen Regionen Frankreichs und Italiens das vorwiegend alpine Österreich um Vertretung ihrer Interessen bitten, und in gleicher Weise könnten sich die spanischen Balearen an Malta als Inselstaat mit ähnlichen Problemen wenden. Auch weltanschauliche und kulturell begründete Differenzen zwischen Zentralregierung und Region könnten so auf EU-Ebene überwunden werden.

Anzustreben wäre also eine Wahlfreiheit der EU-Regionen, in welchem Fachminister-Rat sie sich von welchem Mitgliedsstaat vertreten lassen wollen. Während eine solche Vertretung informeller Art unproblematisch sein sollte – das Einverständnis der jeweils involvierten Mitgliedsstaaten vorausgesetzt – so wird es schwierig, wo es um formelle Beschlussfassungen und die Gewichtung der Stimmrechte geht. Anzustreben wäre eine Änderung der EU-Verträge, was aber eine enorme politische Hürde darstellt; man muss sich daher zunächst mit Vertragsinterpretationen begnügen. Der Vertrag über die Arbeitsweise der EU sagt zu dieser Thematik allerdings recht wenig aus, immerhin kann sich nach Artikel 239 „ jedes Mitglied … das Stimmrecht höchstens eines anderen Mitglieds übertragen lassen“.

Demokratie, Subsidiarität und Staatssouveränität als Grundprinzipien der EU sollten hier eine kreative Interpretation zulassen:

  • Der Zweck dieser Vertragsbestimmung ist ganz offenkundig die Verhinderung eines exzessiven Hortens von Stimmrechten – wobei offen bleibt, ob es sich da um einen Mitgliedsstaat mit gleichen, weniger oder mehr Stimmrechten handelt. Das kleinste EU-Mitglied kann also durchaus auch ein Mitglied mit den höchsten Stimmrechten vertreten.
  • Interessant ist das Wort höchstens in diesem Artikel 239: anders als es das Wort nur täte, impliziert es die Möglichkeit, weniger als ein ganzes Stimmrecht zu übertragen, – und sinnvoll würde das nur für Teile eines anderen Mitglieds gelten, wie es seine Regionen sind.

Also sollte also schon mit der aktuellen Rechtslage auf Regionen bezogene Teile des Stimmrechten eines Mitglieds einem anderen Mitglied übertragen werden können – bis hin zu einer Gesamtsumme übertragener Stimmrechte, wie sie die größten Mitglieder haben! Was die Gewichtung dieser regionalen Stimmrechte anbelangt, so sagen die EU-Verträge dazu zwar auch nichts aus; doch sollte dies ge­gebenenfalls analog zur Stimmrechtsverteilung unter den Mitgliedsstaaten im Verhältnis der Bevölkerung einer Region zur Bevölkerung ihres Gesamtstaates erfolgen.

Mit dieser Ausgestaltung des Regionalismus auf EU-Ebene würden die Mitgliedsstaaten schon im Vorfeld der Fachminister-Räte als Clearing-Stelle für regionale Interessen auftreten. Das ist sicherlich eine zusätzliche Aufgabe, die im Vorfeld der eigentlichen Ministerrats-Tagungen gelöst werden müsste. Die Schwierigkeiten einer solchen Regelung dürften im Übrigen weniger auf technischer und viel mehr auf politisch-psychologischer Ebene liegen. Sie hätte das Potential, auf sanftem Wege einerseits den Regionen mehr gesamteuropäische Denkungsart und Verantwortung näher zu bringen; und andererseits bei den nationalen Vertretungen der Mitgliedsstaaten in den EU-Gremien Gewichtsverschiebungen einzuleiten: Während die Beschlussfassung in außenpolitisch definierten Interessen wie der Sicherheitspolitik, des Schutzes der Außengrenzen und wohl auch das meiste an den staatlichen „Nachtwächter-Funktionen“ weiterhin ungeteilt bei den Zentralregierungen liegen würde; könnte in Bereichen der Kultur, des Sozialen, des Verkehrs und wohl auch des Binnenmarktes eine (gemäß Ar­tikel 239 maßvolle) Wettbewerbs-Situation der Zentralregierungen in den Vordergrund rücken, wo sie um regionale Stimmrechte werben; Zentralregierungen würden damit zu europaweiten Brokern regionaler Interessen werden.

Die Rede vom demokratischen Defizit Europas würde mit diesem neuen Regionalismus vermutlich einschlafen. Wie auch auf anderen Gebieten ist hier und jetzt die Zivilgesellschaft aufgerufen, einer zögerlichen Politik Beine zu machen.

 

[1] Veröffentlicht durch The European Liaison, Institute of European Studies, Queen’s University of Belfast; weiters in Library of Congress Catalogue No. 99210828.

[2] www.breisky.at/www.breisky.atPublications-E/Eintrage/2010/6/23_Lecture_1998__Dealing_with_Minorities__ a_Challenge_for_Europe.html