Unser christlich-humanistische Erbe neu verstehen

„Die Presse“ in Wien brachte am 18. September 2023  unter dem Titel „Das christlich-humanistische Erbe neu verstehen“ von Michael Breisky den nachstehenden   Beitrag (nach geringfügiger Kürzung hier in voller Version):

 

Unser christlich-humanistisches Erbe neu verstehen

               und mit Gemeinsinn und Solidarität Europas Zukunft sichern

 

Das Krisen-geschüttelte Europa muss sich entscheiden, ob es politischer Akteur bleibt oder zum traurigen Wurmfortsatz anderer Erdteile wird. Vernünftige Chancen, diese Krisen zu meistern, gibt es nur, wenn die Europäer zu einem starken Sinn für Gemeinsinn und Solidarität finden, also „Europa lieben lernen“. Ein Jahr vor den nächsten Europa-Wahlen sollte darüber gut nachgedacht und diskutiert werden!

 

Das Christentum hat den entscheidenden Grundstein für den außerordentlichen und weltweiten Erfolg der westlichen Zivilisation gelegt, als es im 13. Jahrhundert mit der Wiederentdeckung der Philosophie des Aristoteles eine höchst pragmatische Verbindung aus idealistischer „Sonntagswelt“ und realistischer „Werktagswelt“ entwickelte. Das führte freilich oft zu Doppelstandards, die die moralische Integrität des Christentums ernstlich geschwächt haben. Noch immer unter dem Eindruck von über tausend Jahren mit Sonntagspredigten setzte sich daher der rationale Humanismus der Aufklärung gegen den Einfluss einer korrumpierten christlichen „Werktagswelt“ zur Wehr und begründete viele Ideen der „Sonntagswelt“ nun auf der Basis von Vernunft statt Transzendenz – so etwa Individualität und Menschenwürde, Minderheitenrechte, Demokratie, Toleranz und soziale Verantwortung. Die Aufklärung bestand auch auf der Trennung von Kirche und Staat, deren Durchführung heute von den christlichen Kirchen – besonders in Westeuropa – sogar als Vorteil gesehen wird. Die politische Umsetzung dieser Werte war dann eine Aufgabe von Christen, agnostischen oder de-istischen Humanisten und später auch demokratischen Marxisten. Dies geschah in einem Prozess wechselnder Dominanz im jeweiligen „Zeitgeist“; und obwohl der Streit um die Bedeutung des Gottesglaubens bis heute andauert, sind im Rückblick diese Werte, wie sie heute in Art. 2 des EU-Vertrages verankert sind, das Ergebnis eines stillschweigenden de-facto-Diskurses zwischen Anhängern des christlichen und des humanistischen Erbes; also für die Würde des Menschen und gegen Fundamentalismus – das ist die große Kulturleistung Europas!

 

Zur Erinnerung: die europäische Integration in den 1950er Jahren folgte der Vision einiger weniger Staatsmänner, meist Christdemokraten. Ihre ersten Schritte mussten unter Berufung auf Sachzwänge „von oben“ durchgesetzt werden, da ein demokratisches „Von unten“ aufgrund der psychologischen Wunden zweier Weltkriege noch undenkbar war. So blieb die Vision eines vereinten Europas in den folgenden Jahrzehnten ein fernes und elitäres Ziel, unter dem ein technokratisches und zunehmend bürokratisches Regime vor allem wirtschaftlichen Kategorien folgte. Nach dem Wendejahr 1989 wurde der pro-europäische Sinneswandel in der Bevölkerung jedoch ignoriert, sodass die Entwicklung der demokratischen Kontrolle und Mitbestimmung bis heute unterentwickelt blieb.

 

In dieser elitären Einstellung stemmen sich leider führende Politiker an der Spitze der EU-Institutionen – einschließlich des Europäischen Gerichtshofs – weiterhin gegen jeden Hinweis auf den unbestreibaren Wert des christlichen Erbes bzw. bagatellisieren sie ihn: Sei es, dass sie radikale Technokraten oder antireligiöse Eiferer sind, für sie begann das geistige Europa  offenbar erst im Zuge der Französischen Revolution, wenn nicht gar erst 1945;  das christliche Erbe  ignorieren sie oder lassen es  – wie in Brüssels Haus der europäischen Geschichte  – in der museale Besenkammer. Damit belasten sie nicht nur alles Kulturelle, sie blockieren auch die Entwicklung eines populären „Narrativs“ über Europa und seine Werte, das so wahr und rational zu sein hat, um selbst zukünftige Generationen stolz darauf zu machen, europäische Bürger zu sein.

 

Der Bezug auf das, was heute das christlich-humanistische Erbe genannt werden sollte, ist also für das europäische Narrativ wesentlich. Es hat den größten Teil der europäischen Identität geprägt, stützt es sich ja auch auf die mosaische Religion und die griechische Philosophie, steht daher auch der Ehrwürdigkeit der chinesischen Tradition nicht nach. Wer dieses Erbe vernachlässigt, beraubt Europa seiner Überlebenschancen in einer zunehmend feindlicher werdenden Welt.

 

Unterstützung für dieses Verständnis kommt von nun überraschenderweise vom Begründer der Diskurstheorie Jürgen Habermas, dem heute wohl meist zitierten Philosophen unserer Zeit. Nach religionskritischen Jahren führt er nun aus: die Vernunft könne zwar erklären, warum „man“ Solidarität mit Mitmenschen üben soll; aber ob diesem Appell gefolgt wird, sei eine ganz andere Frage; nur Religion hingegen könne von ihren Gläubigen direkt und individuell diese Solidarität einmahnen. Dazu reimte schon Erich Kästner:

„Es gibt nichts Gutes, außer man tut es!“ – doch Gott lehrt „besser noch, Du tust es!“

Denn dieses „man“ kommt nirgends an, wo jeder ruft „Jockele, geh Du voran!“  

 Für diesem Beitrag war Botschafter i.R. Michael Breisky Koordinator eines „Autorenkollektivs“, bestehend aus seinen Botschafter-Kollegen im Ruhestand Heinrich Birnleitner, Peter Moser, Christian Prosl und Walter Hagg sowie Johannes Pichler, emeritierter Professor für europäische Rechtsentwicklung der Universität Graz. Von ihnen finden sich persönliche Beiträge zu Europa auch unter  https://www.breisky.at/de/europa