2017: Wie Regionen sich mehr Gehör verschaffen könnten

Es ist höchste Zeit, dass den Regionen in Europa mehr Selbstbestimmung eingeräumt wird – zum Wohle der Bürger!

Wenn das Beispiel Katalonien Schule macht, werden andere folgen – und die EU in eine tiefe, tatsächlich existenzbedrohende Krise stürzen, meint Joschka Fischer in einem europaweit syndizierten Kommentar „Europa versus Regionalismus“ (u.a. auch im „Standard“ vom 4. 11.). Formal gesehen hat Fischer völlig recht: Die für operative Entscheidungen maßgeblichen Ratsformationen sind heute mit 28 Mitgliedern schon am Rande der Funktionsfähigkeit. Ein paar Mitgliedstaaten mehr – und der Kollaps ist da.

Anders jedoch, wenn man inhaltlich fragt: Wie können sich Regionen auf EU-Ebene mehr Gehör verschaffen? Akzeptiert man das Unumstößliche, dass Ratsformationen nur die Vertreter von Zentralregierungen zulassen, dann geht das auch nur über die Vertretung der Zentralregierungen; das wird im Idealfall die eigene sein. Es ist aber auch denkbar, dass sich Regionen von der Vertretung eines anderen Mitgliedstaats vertreten lassen.

So zum Beispiel, wenn größere EU-Mitgliedstaaten starke topografische und klimatische Unterschiede aufweisen, wie das bei Frankreich und Italien der Fall ist: Ihre hochalpinen Regionen haben ganz besondere Eigenheiten und Bedürfnisse, die oft im natürlichen Gegensatz zu den Interessen der Mehrheit im gesamten Staatsgebiet stehen. Ähnlich die Interessen von Inseln wie den Balearen, die von Malta wohl besser vertreten würden als von ihrer Festlandregierung.

Was die EU-Verträge besagen

EU-Regionen sollten daher wählen können, in welchem Ministerrat sie sich von welchem Mitgliedstaat vertreten lassen. Während eine solche Vertretung informeller Art unproblematisch sein sollte – immer das Einverständnis der jeweils involvierten Mitgliedstaaten vorausgesetzt – wird es schwierig, wo es um formelle Beschlussfassungen und die Gewichtung der Stimmrechte geht. Auf den ersten Blick erlauben die Europäischen Verträge hier keinen Spielraum, denn sie sprechen nur von der Möglichkeit, dass sich in den Ratsformationen Mitgliedstaaten durch andere Mitgliedstaaten vertreten lassen. So besagt Artikel 239 der Europäischen Verträge: „Jedes Mitglied kann sich das Stimmrecht höchstens eines anderen Mitglieds übertragen lassen.“

Kreative Interpretationen

Demokratie, Subsidiarität und Staatssouveränität als Grundprinzipien der EU sollten hier jedoch eine kreative Interpretation zulassen: Der Zweck dieser Vertragsbestimmung ist ganz offenkundig die Verhinderung eines exzessiven Hortens von Stimmrechten, wobei offenbleibt, ob es sich da um einen Mitgliedstaat mit gleichen, weniger oder mehr Stimmrechten handelt. Das kleinste EU-Mitglied kann also durchaus auch ein Mitglied mit den höchsten Stimmrechten vertreten.

Interessant ist das Wort höchstens in diesem Artikel: Es impliziert die Möglichkeit, weniger als ein ganzes Stimmrecht zu übertragen – und kann sinnvollerweise nur für Teile eines anderen Mitglieds gelten, wie es eben seine Regionen sind.

Also sollte man schon mit der aktuellen Rechtslage auf Regionen bezogene Teile des Stimmrechts eines Mitglieds einem anderen Mitglied übertragen können – bis hin zu einer Gesamtsumme übertragener Stimmrechte, wie sie die größten Mitglieder haben! Was die Gewichtung dieser regionalen Stimmrechte anbelangt, sagen die EU-Verträge dazu zwar auch nichts aus. Doch sollte dies gegebenenfalls analog zur Stimmrechtsverteilung unter den Mitgliedstaaten erfolgen, also im Verhältnis der Bevölkerung einer Region zur Bevölkerung ihres Gesamtstaates.

Mit dieser Ausgestaltung des Regionalismus auf EU-Ebene würden die Mitgliedstaaten schon im Vorfeld der Fachministerräte als Clearing-Stelle für regionale Interessen auftreten. Das ist sicherlich eine zusätzliche Aufgabe. Die Schwierigkeiten einer solchen Regelung sollten im Übrigen weniger auf technischer, sondern mehr auf politisch-psychologischer Ebene liegen.

Sie hätte das Potenzial, auf sanftem Wege einerseits den Regionen mehr gesamteuropäische Denkungsart und Verantwortung näherzubringen, andererseits bei den nationalen Vertretungen der Mitgliedstaaten in den EU-Gremien Gewichtsverschiebungen einzuleiten.

Europaweite Broker

Während die Beschlussfassung im Europäischen Rat ungeteilt bei den Zentralregierungen läge und auch bei den Ministerräten in außenpolitisch definierten Interessen – wie der Sicherheitspolitik, dem Schutz der Außengrenzen sowie den staatlichen „Nachtwächterfunktionen“ –, könnte in den Bereichen Kultur, Soziales, Verkehr und auch Binnenmarkt eine (gemäß Artikel 239 maßvolle) Wettbewerbssituation der Zentralregierungen in den Vordergrund rücken, wo sie um regionale Stimmrechte werben. Zentralregierungen würden damit außenpolitisch zu europaweiten Brokern regionaler Interessen werden. Innenpolitisch würden sie den nationalen Gemeinsinn neu hinterfragen und nach Kräften zu fördern haben. Denn der Sinn der Gewährung von mehr regionaler Selbstbestimmung ist heute die Garantie dafür, dass die zentrale Macht mit der regionalen Macht auf Augenhöhe verkehrt – zum Wohle der Bürger! Neues Motto also: Si vis pacem, para regionem.

DER AUTOR

Botschafter i. R. Michael Breisky (geboren 1940) studierte Rechtswissenschaften. 1967 trat er in den Dienst des Außenamtes ein und leitete eine Zeit lang die Südtirol-Abteilung und die Amerika-Abteilung. Er ist Verfasser mehrerer Bücher und Artikel zu Fragen des Regionalismus, des Minderheitenschutzes und der Globalisierung.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 16.11.2017)

Ergänzende Bemerkungen des Autors: Die Möglichkeit der Übertragung von Stimmrechten auf regionaler Basis hätte Auswirkungen, die über die Beruhigung von Problemen wie der Katalonie-Krise weit hinausgehen. Ja, die Souveränität der EU-Mitgliedsstaaten bliebe unangetastet, und ohne Zustimmung ihrer Zentralregierung könnten Regionen nicht andere Mitgliedsstaaten um Vertretung ersuchen. Aber Zentralregierungen müssten nun ständig auf die besonderen Interessen ihrer Regionen Rücksicht nehmen; tun sie das nicht oder verweigern sie grundlos die Übertragung von Stimmrechten, würden sie sowohl im eigenen Land wie auch im Ausland den Eindruck der Demokratie-Verweigerung erwecken, mit allen negativen Folgen für ihr politisches Ansehen in Europa – und die eigene Wirtschaft. Es wäre daher sehr schwierig einer Region zu verbieten, jenseits der Staatsgrenzen Vertretungs-Hilfe zu suchen. Umgekehrt werden auch Mitgliedsstaaten wenig Lust haben, durch Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines anderen Mitglieds ihre guten Beziehungen zu diesem zu gefährden. Wenn es daher auch nur wenige Fälle tatsächlicher Stimmrechts-Übertragungen geben mag, ihre Auswirkungen auf die gesamte EU können kaum überschätzt werden: Abgesehen von der Förderung von Subsidiarität innerhalb der Mitgliedsstaaten wäre es für Mitgliedsstaaten nun schwieriger, ohne Rücksicht auf die Interessen aller ihrer Regionen traditionelles Power-play zu betreiben; die sachliche Grundlage für Entscheidungen der Ministerräte würde in dem Maße breiter werden, als Regionen sich durch ihre Zentralregierungen – und in der Folge durch die gesamte EU – weniger an den Rand gespielt sehen. Insgesamt bliebe zwar die überragende Stellung der Räte unter den EU-Institutionen unangefochten, gleichzeitig würde aber eine neue Aussicht auf Subsidiarität zum Abbau des so oft behaupteten demokratischen Defizits der EU beitragen. All das würde ohne einer – kaum erreichbaren – Änderung der EU-Verträge durch einen Prozess ausgelöst werden, den schon zwei Mitgliedstaaten in Gang setzen können.

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2017: Vision für weniger Effizienz, aber mehr Resilienz

Vision für weniger Effizienz, aber mehr Residenz

Artikel im Rotary Magazin, Hamburg, August 2017:

Brexit, Trumps Wahlsieg und der populistische Zulauf deuten auf ein wachsendes Anti-Establishment-Gefühl, verbunden mit Abstiegs- und Überfrendungsängsten – alles Zeichen eines tiefen Umbruchs. Hatte Kurt Tucholsky recht, als er meinte: „das Volk denkt oft falsch, fühlt aber immer richtig“?

Zumindest der zweite Teil dieses Satzes stimmt; denn mit Effizienz und Resilienz gibt es ein Begriffs-Paar, das aus dem Gleichgewicht gefallen ist und die Entstehung dieses Gefühls gut erklären kann: Effizienz – also das Streben nach einem „immer besseren“ Verhältnis zwischen Input und Output – verbindet Materialismus mit linearem Vernunft-Denken und hat sich zum umfassenden Leitprinzip der westlichen Gesellschaft entwickelt; Resilienz hingegen drückt nachhaltig robuste Widerstandskraft aus und erfordert vor allem ganzheitliches Denken. Kurz: ohne Effizienz werden wir verhungern, ohne Resilienz fahren wir bald an die Wand. Der Nachhaltigkeit ist am besten gedient (so der Resilienz-Forscher Bernard Litaer), wenn der Aufwand für Resilienz größer ist als der für Effizienz – was heute eindeutig nicht der Fall ist. (mehr …)

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