Gemeinsame Kunst als Säule europäischer Identität

Europäische Kunst als gemeinschaftbildender Faktor

Von Botschafter i.R. Dr. Walter Hagg

 

Griechisch-römische Bauwerke prägten in der Antike über Jahrhunderte hinweg das kulturelle Erscheinungsbild des gesamten Mittelmeerraumes, in römischer Zeit aber auch die Länder nördlich der Alpen bis an die schottische Grenze: Tempel, Basiliken, Säulengänge, Ehrenbögen und Bäder gaben und geben noch heute, soweit sie überlebt haben, dem Reisenden ein deutliches kulturelles Heimatgefühl. Seit dem 4. Jahrhundert wurden dann im gesamten römischen Reich, also auch in großen Teilen des heutigen Österreich, Kirchenbauten errichtet, die dem Schema der römischen Basilika folgen. Im frühen Mittelalter, in der Zeit der Karolinger und der Ottonen, beobachten wir eine bewusste Rückbesinnung auf die Antike, Stichwort „Karolingische Renaissance“, der ein durchaus gesamtwesteuropäischer Anspruch zu eigen ist.

 

Im 11. Jahrhundert entsteht sodann in allen Regionen Europas der Stil der Romanik, der bei allen regionalen Varianten doch eine ganz große Einheitlichkeit erkennen lässt. Die Gotik, ursprünglich ein regional begrenztes, durchaus königlich-französisches Konzept, breitet sich ab dem späten 13. Jahrhundert, nicht zuletzt durch die Bettelorden, in rasender Geschwindigkeit über den gesamten Kontinent aus. Ihre Schöpfungen im Bereich der Architektur und Kunst müssen im Kontext der scholastischen Theologie und Philosophie gesehen werden, die damals eine besonder Blüte erlebten und im gesamten europäischen Westen eine ausgeprägte geistige Einheit hervorgebrachten. Bauten der Gotik finden wir von Portugal bis Syrien und von Zypern und Sizilien bis nach Irland und Schottland. Ein mittelalterlicher Student, der etwa von Oxford nach Salerno wanderte, konnte sich auch ästhetisch überall daheim und geborgen fühlen.

 

Die Renaissance, im frühen 15. Jh. von Italien ausgehend, verbreitete sich ebenfalls in weniger als hundert Jahren über den gesamten Kontinent und prägte die materielle Kultur Europas nachhaltig. Nach der spirituell-mystisch ausgerichteten Gotik fand damals eine quasi rationalistische Rückbesinnung auf griechische und römische Gelehrsamkeit sowie auf Formen  der römischen Architektur statt. Die charakteristischen Werke dieser Epoche sind bis nach Osteuropa hinein zu finden.

 

Für das Barock gilt Analoges: die Idee der Gegenreformation, durch ein prächtiges Gesamtkunstwerk ungeahnter Intensität die Menschen wieder zum alten Glauben zurückzuführen, ist naturgemäß vor allem im katholischen Bereich wirksam geworden, der Barockstil fand aber – etwas „schaumgebremst“ – auch in den protestantischen Ländern weite Verbreitung sowohl in der weltlichen als auch in der geistlichen Architektur.

 

Der Geist der Aufklärung drückt sich in ganz Europa ab der Mitte des 18. Jhs. im Stil des Klassizismus aus: klassizistische Architektur ist im gesamten Westen Europa von Sizilien bis Schottland zu finden, aber auch bis weit nach Russland hinein. Man hat die Aufklärung im Gegensatz zum Barock zurecht als ein Elitenprojekt bezeichnet, und das kommt naturgemäß auch in den bildenden Künste zum Ausdruck, tut aber seiner prägenden Wirkung auf dem gesamten Kontinent keinen Abbruch.

 

Vorstehende Feststellungen gelten mutatis mutandis auch für Malerei, Bildhauerei und Musik. In diesen Bereichen beobachten wir besonders ausgeprägte grenzüberschreitende Beeinflussungen und eine permanente Reisetätigkeit von Künstlern, die bereits seit dem Mittelalter und der Renaissance eine globalisierte Community entstehen ließ. Als Beispiel aus der Musik kann das Phänomen der italienischen Hofkapellmeister an zahlreichen Fürstenhöfen nördlich der Alpen, ganz besonders aber am Habsburger Hof in Wien, angeführt werden: ohne die Internationalität dieses Kunsttransfers an den Fürstenhöfen Europas wäre die Wiener Klassik nicht möglich gewesen! Man kann aber auch an den Hofmaler von Kaiserin Maria Theresia, Martin van Meytens, denken: er war Holländer, der aber als Sohn eines Künstlers in Schweden aufgewachsen war. Das Übernationale gehört geradezu zur DNA des habsburgischen Österreich, und nicht wenig davon ist auch noch heute deutlich spürbar.

 

Keineswegs zufällig wird gerade in Ostasien stets darauf hingewiesen, dass die klassische Musik wohl das allergrößte Geschenk ist, welches Europa der Welt gemacht hat, wobei Österreich naturgemäß in diesem Zusammenhang eine Schlüsselrolle spielt. Bildende Künste und Musik überschreiten jedenfalls problemlos Sprachbarrieren und staatliche Grenzen, und so konnte sich ein europaweiter gemeinsamer Geschmack sowohl in den bildeten Künsten als auch in der Musik herausbilden, der die Mentalität des europäischen Menschen unabhängig von seiner nationalen und regionalen Zugehörigkeit nachhaltig prägte und prägt.

 

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schwächen sich die Gemeinsamkeiten in der bildenden Kunst und Architektur Europas etwas ab und die nationalen Stile werden stärker bestimmend. Dennoch bleibt für einen Beobachter von außen die Gemeinsamkeit ganz deutlich erkennbar – sei es im Historismus oder im Jugendstil.

 

Fazit: im Bereich der Künste überwiegt das Gemeinsame bei weitem die Partikularismen, und dies seit zwei Jahrtausenden: die Wirkung dieses Phänomens auf das Denken und Fühlen des europäischen Menschen kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Botschafter i.R. Dr. Walter Hagg, 

Lagergasse 1/18 1030 WIEN

mobile +43 660 1697 436