Leopold Kohr und das Gesetz der politischen Verblödung

Vortrag von Michael Beisky im Hayek-Club Salzburg am 19. September 2023

 

I  Leopold Kohr

 Kurzbio: Welt-Philosoph aus Oberndorf, Alt. Nobelpreisträger, Bekannt unter Schlagwort small is beautiful, Tatsächlich war er der Philosoph des Menschlichen Maßes.

Biographische Stationen: geb. 5.10.1909 in Oberndorf und Salzburg,  Spanien (Bürgerkrieg), New York, Puerto Rico, Aberystwith, Neukirchen a.GrV, gest. 25.2.1994 in Gloucester

Selbstbeschreibung: romantischer Anarchist: besser: pragmatischer Humanist der messerscharfen Analyse, gemildert durch großartige Selbst-Ironie;  kein Zyniker sondern Charmeur. In Verbindung mit einfacher,  Sprache war das für  Kritiker die Ausrede,  seine unbequemen Befunde ins unakademische Feuilleton abzuschieben.

Tatsächlich der Philosoph der Überschaubarkeit:  Übersetzung des Begriffs ins Englische schwierig, am ehesten  „Comprehensibility“, d.i. Fähigkeit zu Grob-Verständnis des gesamten Umfelds in ganzheitlicher Zusammenschau.  LKs Menschliches Maß und seine radikale Ablehnung von „Maßlosigkeit“ ist also eine betont ganzheitliche Zielvorgabe. LK ist damit ein Kämpfer gegen alle Arten des Fundamentalismus und dessen Trend zu Selbstzerstörung

Ambivalenz von Wachstum: für LK “bis zu gewissem Punkt“ nützlich, dann schädlich. Vergleich mit menschlichem Körper-Wachstum: in ersten Lebensjahrzehnten gesund, später krankhaft, Krebs. Wachstumsgrenze im sozio-politischen u. ökonom. Bereich, LK argumentiert das „top down“: Was Paracelsus zu Medizin gelehrt hat, gilt für alle großen Ideen: Alles ist Gift, entscheidend ist die Dosis

Wachstumkritik bottom up  folgt der Grenznutzenschule: Der „kritische Punkt des Wachstums sozialer Größe“ liegt dort, wo zusätzliches Wachstum mehr negative als positive Wirkung hat. Das heißt, auch nach dem kritischen Punkt ist Wachstum mit positivem Gesamt-Resultat möglich, es hat aber bereits den Keim des Niedergangs in sich.

 

II Gesetz der Verblödung

Kohrs Einsichten wurden in den verschiedensten Sachbereichen angewendet: Soziologie, Betriebs- und Volkswirtschaft, Politik, Entwicklungshilfe, Städtebau, ja auch in der Kunst. Hier soll jedoch ein besonderer Aspekt näher behandelt werden: Seine Lösungsansätze zur Milderung, vielleicht sogar Überwindung der allgemein um sich greifenden politischen Verblödung. Blöde ist ja ein Mensch, der unfähig ist, sein Umfeld so zu deuten, dass er sinnvoll handeln kann. Zu diesem Zweck sei zuerst die biologische Zwangsläufigkeit der heute allgemein um sich greifenden Verblödung erklärt:

 

Zwei Denkebenen

Die biologische Evolution hat dem Menschen u.a. zwei Denk-Ebenen beschert: das bildhaft-konkrete Denken und das sprachlich abstrakte Denkena.  Ich folge dabei der klassischen Darstellung der biologischen Evolution durch Hoimar v. Ditfurths „Der Geist fiel nicht vom Himmel“ sowie der rezenten Publikation des Neurobiologen Bernd Hufnagl „besser fix als fertig“, insbesondere was die Kapazität des Gehirns zur Informationsverarbeitung anbelangt.

Die bildhaft-konkrete Ebene ist demnach das urtümlichere, im Kern schon bei Einzellern feststellbare System der Reaktion auf äußere Reize, die gleichzeitig mit Erfahrungsmustern verglichen werden, um biologische Urfunktionen genau dann erfüllen zu können, wo dies sinnvoll erscheint; es geht also zwecks Ressourcen-Schonungum das Ein- und Ausschalten bestimmter Funktionen. Im Tierreich wie beim Menschen sind das die Imperative der „Four F!“,also das flight!, fight! feed! und fuck! Die Befolgung dieser Befehle hängt bei höher entwickelten Tieren nicht nur von den äußeren Reizen ab, wie sie von den Sinnesorganen registriert werden, sondern auch vom analogen Heraus-Filtern eindeutig redundanter Wahrnehmungen und dann der Abgleichung der Wahrnehmungen mit Erfahrungsmustern. Beide Arten von Sortierungen sind genetisch programmiert und erfolgen „automatisch“, d.h. unterhalb einer Bewusstseinsschwelle. Bei höher entwickelten Wirbeltieren – und so auch ganz besonders beim Menschen – werden hier auch individuell gelernte Erfahrungsmuster immer wichtiger. Schon bei Warmblütern führt jedoch nicht jeder äußere Reiz, der den Weg durch Filter und Erfahrungsmuster geschafft hat, zu automatischer Befolgung der „Four F!“- also zu sofortigen und unbewussten Spontan-Reaktionen, wie wir sie etwa beim Zurückschrecken vor  Schlangen oder Finger-Verbrennen kennen.  Vielmehr wird in der Regel der äußere Reiz dem Bewusstsein als Handlungs-Impuls gemeldet, und ob dieser Impuls abgelehnt oder befolgt, abgeschwächt oder verstärkt wird, ist Sache einer bewussten Entscheidung, mit individuell angeeignetem Erfahrungswissen als Ratgeber.

Und damit ist nun das sprachlich-abstrakte Denken ins Spiel gekommen, das nicht analog sondern in Schritt-für Schritt-Folgen operiert. Schon Warmblüter können verschiedene Außen-Wahrnehmungen an Hand einer Ur-Grammatik sinnvoll kombinieren: wenn A + B, dann C;  und wenn X + Y, dann nicht Z.  Als Teil des Bewusstseins setzt das sowohl individuelle Erfahrungen als auch Abstraktionsvermögen zur Prüfung der Realität voraus, sowie darauf aufbauend den bis heute umstrittenen Komplex des freien Willens. Voilà – der homo sapiens!

 

Drei Faktoren der Verblödung:

  1. Grenzen der Überschaubarkeit Zum einen können Sinnes-Impulse ja nur innerhalb von Gesichtskreis bzw Rufweite wahrgenommen werden. Nur dort funktioniert die unbewusste Filterung der Sinneswahrnehmungen samt Abgleich mit Erfahrungsmustern. D.h, außerhalb der Sinne gibt es keine „automatischen“ Warnungen vor bedrohlichen Gefahren und Hinweise auf nützliche Chancen für „feed and fuck!“; vielmehr muss der Mensch alles, was jenseits des Gesichtskreises liegt, über das sprachlich-abstrakte Denken erforschen und verarbeiten. Die Umfeld-Kontrolle wird somit bei Überschreiten der Überschaubarkeits-Grenze von einer Bring-Schuld der Natur zu einer extrem mühsamen Hol-Schuld jedes Menschen. Allerdings wird dieses scharfe Trennung durch den Sozialen Raum im nachbarschaftlichen bzw. dörflichen Leben gemildert. Denn über diesen Raum kann man aus der Kombination von Projektionen des Gesichtskreises und Erfahrungswissen einen ganzheitlichen Informationstand gewinnen, der nahezu ebenbürtig mit denjenigen der lokal beschränkten Sinneswahrnehmungen ist. Je weiter man sich von diesem Sozialen Raum entfernt, desto schwächer wird allerdings die unbewusste Filter- und Abgleichungs-Leistung der ganzheitlich-bildhaften Ebene, bis sie ganz erlischt – dies leider ohne jede Alarmmeldung, was „blöderweise“ oft als Harmlosigkeit missdeutet wird. Man erliegt damit dem „Syndrom des Autobahn-Nebels“: Weil der Autofahrer die Freiheit der ersten 20 m in die Nebelwand hinein projiziert,   geht  er nicht vom Gas – und dann kracht es leider allzu oft.
  2. Extrem schwache Informationsverarbeitung jenseits der Überschaubarkeit: Die nur sehr langsam wirkende biologische Evolution ist bei uns Menschen auf den Überlebens-Erfordernissen der Alt-Steinzeit stehen geblieben. Damals waren die Anforderungen an die Kapazität des menschlichen Gehirns zur sprachlich-abstrakten Informationsverarbeitung noch sehr gering und liegen heute noch immer bei etwa 40 Bit pro Sekunde, diejenige des bildhaft-ganzheitlichen Denkens jedoch bei gigantischen 11 Millionen Bit pro Sekunde. In einem linearen Vergleich, wo die die ganzheitlich-bildhafte Ebene den 300 km der Entfernung Wiens von Salzburg entspricht, schafft die sprachlich-abstrakte Ebene nur ganze 10 cm! Damit die weite Welt jenseits der Überschaubarkeits-Grenze korrekt erfassen zu wollen ist daher ebenso tapfer wie schwierig und hoch riskant.
  3. Informations-Stau an der Bewusstseinsschwelle: Natürlich ist es problematisch, Globalisierung und Informationstechnologie mit den Strukturen des menschlichen Gehirns aus der Alt-Steinzeit bewältigen zu wollen. Die dem Bewusstsein zur raschen Entscheidung vorgelegten Handlungs-Impulse der „4 F“ beruhen ja nicht nur auf direkten Sinnes-Wahrnehmungen der bildhaft-ganzheitlichen Denkebene; sondern auch aus indirekten Wahrnehmungen, die über Medien (im weitesten Sinne) auf der sprachlich-abstrakte Ebene gelandet, nun ebenfalls nach bewusster Entscheidung drängen. Auf beiden Ebenen hat sich zudem – jedenfalls in modernen Informationsgesellschaften – die Quantität der heute zu treffenden Entscheidungen vervielfacht, denken wir an den immer raffinierter werdenden Kampf der Werbe-Industrie – aber auch der Politik – um unsere offenbar immer kostbarer werdende Aufmerksamkeit.

Kein Wunder, dass immer mehr Menschen „auf nix mehr neugierig sind“; weil ihr „Neugier-Akku“ erschöpft ist, geben sie Handlungs-Impulsen nach den „4F“ ohne bewusste Prüfung nach, wie sich besonders deutlich bei der Fremdenfeindlichkeit zeigt (ihr fight!-Impuls ist  die Reaktion auf die gefühlte Bedrohung des eigenen Territoriums). Oder sie versuchen,  sich um eine Entscheidung zu drücken, lassen dann logisch unvereinbare Positionen neben einander bestehen – der leider immer häufiger anzutreffende „kognitive Dissens“.

 

Damit sind wir bei der Verblödung angelangt. Sie ist natürlich nicht total. Im Bewusstsein geben genetische Programmierungen den Alarmmeldungen aus dem unmittelbaren Umfeld weiterhin absoluten Vorrang, während Informationen aus der ferneren sprachlich-abstrakten Welt – und so auch aus der Politik jenseits des Sozialen Raums – sich hinten anstellen müssen, um berücksichtigt zu werden. Das hier beschriebene Phänomen der Informations-Überflutung führt somit zu einem Tunnelblick: Alles jenseits des allernächsten örtlichen und zeitlichen Umfelds verschwimmt und verliert sich, bestenfalls bleibt ein ebenso unbestimmtes wie störendes Bauchgefühl.

 

Hier nun für die Informationsgesellschaft mein Gesetz der politischen Verblödung:

Bei intellektueller Erschöpfung verengt sich der Tunnelblick auf die Welt, je mehr Entscheidungsgrundlagen jenseits ganzheitlicher Überschaubarkeit liegen“.

 

Dieses Gesetz fußt auf rein biologischen Zwängen und ist daher auch nicht verhandelbar. Wir erleben damit eine anthropologische Zeitenwende: der angeblich so sapiente Homo ruiniert heute die kognitiven Grundlagen für das Überleben seiner Spezies. Im Europa der letzten 50 Jahre war es zuerst Internationalisierung, dann Europäisierung, schließlich Globalisierung, parallel begleitet von der binären Realität der Digitalisierung – bei all diesen Trends blieb die ganzheitliche Überschaubarkeit auf der Strecke, der Tunnelblick ist nun besonders in der Politik das beherrschende Phänomen. Ihr erstes Opfer ist die Demokratie, weil in der Verblödung die Fähigkeit zur Entscheidungsfindung im Diskurs auf Augenhöhe total verkommt. Erster Trostpreis wäre woh die illiberale Demokratie, ganz „Orban-Style“: Die Gleichschaltung gekaufter Medien erspart einem sowohl die Mühen des Diskurses als auch ungesunde Aufregung über grassierende Korruption; und tapfer, wie Wir (groß geschrieben) immer schon waren, brauchen Wir auch keine Angst vor der Zukunft zu haben – odrrr? Populisten sind ja immer nur die anderen.

Sucht man nach einem konkreten Zeitpunkt, der  die anthropologische Zeitenwende ins Negative markiert – sozusagen als Gegenstück zum christlichen Weihnachtserlebnis – so möchte ich bei dem Hochsommer des Jahres 2016 ansetzen:  Es begann am 24. Juni mit dem Brexit-Votum der Briten und sah vier Wochen später die Kür Donald Trumps zum Präsidentschafts-Kandidaten der Republikaner; dazwischen lag mit dem LKW-Massaker in Cannes der erste islamistische Massenmord ohne Kriegsgerät, und begann die Abkehr der Türkei von westlichen Werten nach Niederschlagung des Putsches gegen Präsident Erdogan. Es ging bald weiter mit Hilflosigkeit während der Migrations- und Finanzkrise sowie den Wissenschafts-Feindlichkeiten der Corona-Krise und Ratlosigkeit gegenüber rechten Populisten – Stichwort Orban, Le Pen und AFD – aber auch linken Befindlichkeits-Fanatikern  der wokeness und cancel-culture. Überall zeigt sich der Tunnelblick im Rückzug auf die eigene Blase – wer sucht heute noch Fakten-basierten Diskurs!?

 

 

III  Kohrs Rezepte

Aber genug des Jammers, und nun: Was tun? Ziel muss sein, über-große Kollektive auf sub-kritische Größe zurückzuführen, wo sich das „Menschliche Maß“ entfalten kann.  Wir brauchen dazu eine „Economy oft the Mind“, wie ich es in meinen Büchern beschrieben habe. Der erste Schritt dazu ist klar: Das Problem des grassierenden Tunnelblicks muss breit publiziert werden, seine Gefahren müssen mindestens so rasch und allgemein verstanden werden wie diejenigen der Klimakrise – die Ähnlichkeit der unheilvollen Dynamik beider Krisen ist ja frappierend. Für die Publizität des nicht nur politischen Tunnelblicks ist es im Übrigen hilfreich, die davon betroffenen Menschen nicht als dumm, asozial oder ähnlich abwertend anzusehen sind, sind sie doch Opfer eines bisher der Allgemeinheit nicht bekannten Syndroms; nur aus einer solchen Schuldbefreiung bestehen ja realistische Aussichten, sie zur Mitarbeit an der Bekämpfung des Tunnelblicks zu gewinnen.

 

Diese Zeitenwende erfolgt an der Schwelle zum Zeitalter der KI, ein anthropologisches Ereignis mit hohem Potential zum Guten, aber auch zu weiterer Verblödung. Klarer Nachteil der KI ist ihr binäres System, der notwendige Analog-Computer ist ja noch weit weg. Hatte Helmut Qualtinger Ähnliches im Sinn, als er den „Wülde mit seiner Maschin“ besang, mit den klassischen Worten „Ich weiß nicht wo ich  hinfahr, aber dafür bin ich g’schwinder dort“?

 

Schon bei den nächsten Schritten wird man an Leopold Kohr als Philosoph, ja Prophet der Überschaubarkeit nicht vorbeikönnen, Der politische Kern seiner Lehre ist das Subsidiaritäts-Prinzip, also die Regel, in Hierarchie-Ebenen soll „Unten“ nicht das erledigen, wozu „Oben“ keine Lust hat; sondern soll vielmehr „Oben“ nur das erledigen, was „Unten“ nicht oder nur schlecht kann. Denn das „Unten“ gibt Überschaubarkeit die Flexibilität, um maßgeschneiderte Lösungen für individuelle Probleme zu finden – und springen Unten ungefragt Querverbindungen zur Entlastung der 40 Bit/Sekunden ins Auge. Kohr führt das zu dem weiteren Argument, dass dort unten „die Probleme auf das Maß zurückgeführt werden können, bei dem gewöhnliche Sterbliche sie mit den begrenzten Mitteln, die den Menschen nun einmal zur Verfügung stehen, zu bewältigen vermögen“ –  in einem Dorf kann ein Mensch durchschnittlicher Intelligenz  ein guter Bürgermeister sein, in einer größeren Stadt muss es schon ein Genie sein, und in einer Metropole ist es ein Ding der Unmöglichkeit. Kohr spielt damit auf die Herausforderungen der Komplexität an, die im Vergleich zum Größenwachstum exponentiell zunehmen und selbst Menschen mit höchstem IQ rasch überfordern.

In die gleiche Kerbe fällt Kohrs These von „Streckfaktoren“ für die unbedenkliche Größe einer Gesellschaft. Dazu zählt vor allem kulturelle Homogenität; denn wo sie fehlt – besonders im hoch gepriesenen Multi-Kulti – kostet das mehr intellektuelle Energie, fördert also den Tunnelblick. Auch hier stellt sich allerdings die Frage des richtigen Maßes. Streckfaktor ist auch die Verlangsamung der wirtschaftlichen Umlaufgeschwindigkeit – das hilft der Neugier, sich besser zu erholen. Individuelle „Streckfaktoren“ sind die von Kohr vorgelebte ganzheitliche Tugenden des Humors, der Selbstironie und Selbst-Relativierung sowie einer robusten Weltanschauung.

 

Im sehr hypothetischen Idealfall sollten wir also zu der gemächlichen Welt kulturell homogener Kleinstaaterei zurückkehren. Schon realistischer ist das Schweizer Modell der Kantone mit hoher Kompetenzdichte, wo die Ganzheitlichkeit des Sozialen Raumes noch weitgehend gegeben ist, man nur ausnahmsweise den Bund fragen muss. Dem entspricht auch der Gedanke, angesichts natürlicher und Menschen-gemachter Katastrophen mit ihren steigenden Risken für Lieferketten die Grundversorgung ganz auf regionale Basis zu stellen.

 

Aber wir werden selbst bei einem Maximum an Kompetenzen in überschaubaren Bereichen nicht herumkommen, auch darüber hinaus planen und handeln zu müssen, so wie wir ja auch von Dingen jenseits der Überschaubarkeit betroffen bleiben.  Abgesehen von notwendigen Ausnahmen des Überschaubarkeits-Gebotes gibt es kein Allheilmittel gegen die Risken seiner Verletzung, aber mehrere weitere Ansätze, um die Verblödung zumindest einzubremsen.

 

Hier ist ein neuer Ansatz die Verbindung der erwähnten top down- und bottom up-Thesen Kohrs: Wenn jede große Idee oder Ideologie zu Gift wird, weil sie dazu tendiert ihren  Anwendungsbereich stets zu erweitern; und wenn in der realen Welt exzessives Wachstum vor dem tatsächlichen Scheitern den kritischen Punkt überschreitet, bei dem die letzte Wachstumseinheit mehr Schaden als Nutzen bringt; dann muss es auch bei großen Ideen den kritischen Punkt geben, als Vorboten von Exzess und Scheiter. Das verlangt eine Relativierung der gängigen Gültigkeitsvermutung neuer Ideen und Regeln, wonach man diese nach bestandener erstmaliger Überprüfung und Probezeit „bis zum Beweis des Gegenteils“ – meist also dem gänzlichen Scheitern – umsetzen kann.  Relativierung bedeutet, dass nach Überschreiten des kritischen Punktes räumliche und zeitliche Ausnahmen von der Regel zulässig sein müssen, nun aber mit einer Umkehrung der Beweislast: es liegt an Verfechtern der Regel, die Verweigerung von Ausnahmen nachweislich zu begründen, und zwar nicht aus der Regel selbst heraus, sondern auf Grund ganzheitlicher Einwände.

Dazu zwei Beispiele: In der Asyl- und Migrationskrise behauptet ein Land das Boot ist voll“ und verweigert die Befolgung der Flüchtlingskonvention; hier läge es nun an den Vertretern der Konvention nachzuweisen, dass das Boot noch nicht unzumutbar voll ist. Oder ein Land schränkt die Informationsfreiheit durch hohe Steuern auf Werbung ein, wo sie nur der Umsatzsteigerung dient; hier werden sich Werbe-Industrie sowie große Internet-Plattformen wohl schwertun nachzuweisen, dass ihre exzessive Beanspruchung menschlicher Aufmerksamkeit keine schweren psycho-sozialen Schäden hervorruft. Schon die Möglichkeit solcher Relativierungen würde den notwendigen Diskurs vorziehen und damit Emotionalisierungen vermeiden – diese sind ja seit je her Verstärker des Tunnelblicks.

 

Kohr ist auch hilfreich, um den kritischen Punkt exzessiver Anwendung großer Ideen erkennen zu können, abgeleitet aus dem Satz der Tugendlehre des Aristoteles, wonach Tapferkeit ohne Vorsicht tollkühn ist, Vorsicht ohne Tapferkeit hingegen feige. Es braucht also jeder Wert einen komplementären Gegenwert, um nicht ins Unmaß getrieben zu werden. Klassische Fälle von Komplementär-Werten sind Freiheit und Sicherheit, Demokratie und Hierarchie, Wettbewerb und Kooperation, Individualität und Gesellschaftlichkeit, auf gesellschaftlicher Ebene Anspruch und Leistung sowie – schon sehr philosophisch – Vernunft und Liebe. Ob ein Wert im Exzess liegt, lässt sich also am Stellenwert seines Gegenwertes erkennen – ist dieser sehr niedrig, so bestätigt das den Exzess des Gegenwertes. Werte-Diskussionen mit der Verteidigung missachteter Werte zu beginnen fällt im Übrigen meist leichter als mit Angriffen auf den fundamentalistischen Exzess seines Gegenwertes.

 

Hilfreich wäre es auch – dem Gedanken der repräsentativen Demokratie folgend – jenseits der Überschaubarkeitsgrenze Menschen mit ganzheitlichen Beobachtungen zu betrauen und das bewährte System von Auslandskorrespondenten und Diplomaten so zu erweitern, dass auch allgemein genutzt werden kann.  Diese Vertreter kennen ja die Bedürfnisse ihrer Heimat und berichten über versteckte Fakten und Risken vor Ort.

 

Wer eingeladen ist, im Hayek-Club zu sprechen, sollte auch einen Konnex zum Namenspatron dieser Vereinigung finden – und das fällt mir ausgesprochen leicht:  Kohrs Kritik an Gleichschaltung und Vereinheitlichung – ich nenne Vereinheitlichung das Opium für Einfältige – findet einen schönen Gleichklang im Aufsatz Friedrich v. Hayeks „Gesetz und Befehl“: Weil die Komplexität gesellschaftlicher Organisationen durch Menschen entstanden ist, darf ihre Ordnung nur mit Regeln festgelegt werden, die dem Einzelnen einen Spielraum lassen. Ohne diesen Spielraum werden Regeln zu Befehlen, die eine Ordnung nicht verbessern können; widersprechen doch Befehle dem Streben des freien Menschen nach souveräner Gestaltung der persönlichen Umwelt. Zwei Zahlen illustrieren diese Tatsache: Wenn ich mich richtig erinnere, hatte die erste Weinordnung der EU 30.000 Worte, sie war also Befehl; die Zehn Gebote hingegen haben nach wie vor keine 100 Worte.

Hayeks Markt-Philosophie verdient gewiss höchsten Respekt, nach meinen gewiss sehr oberflächlichen Kenntnissen seines Werkes ist seine zentrale Idee diejenige des Marktes als Umschlagplatz jeden wirtschaftlichen, letztlich aber auch politischen Geschehens. Freilich: auch diese großartige Idee hat einen kritischen Punkt und einen derzeit vergleichsweise missachteten Komplementär-Wert, es ist das die Kooperation. Wie der österreichische Bio-Mathematiker Martin A. Nowak nachgewiesen hat, ist altruistische, also den Wettbewerb umgehende Kooperation in der Biologie weit verbreitet und kann auch in menschlichen Gesellschaften effizienter sein als marktwirtschaftlicher Wettbewerb; und zwar dann, wenn andere als die üblichen Preis-Faktoren für eine altruistische Kooperation sprechen. Solche nicht-monetären Vorteile werden in der Regel jedoch nur in einem überschaubaren Umfeld erkannt und genutzt, womit wir wieder bei dem zentralen Thema der Überschaubarkeit sind.

 

Der Bezug auf nicht-monetäre Vorteile bringt schließlich einen anderen, vielleicht sogar entscheidenden Ansatz der Verblödungs-Vermeidung mit sich; es ist das die Ethik. Nicht dass er immer so gehandelt hat, aber ein Wort Winston Churchills hat allerhöchstes Gewicht: Weil die Folgen unserer Entscheidungen nicht wirklich vorhergesehen werden können, ist es das Intelligenteste (!), sich stets für das Anständige zu entscheiden. Also auf eine kurze Formel gebracht: je fester meine ethischen Überzeugungen sind, desto eher wird es mir gelingen, in meinem Unbewussten Erfahrungsmuster mit ethischem Hintergrund vorzuziehen und solche unethischer Art zurückzustufen, eine Verengung des Tunnelblicks unterbleibt damit – ja dieser weitet sich sogar durch verstärkten Dopamin-Ausstoß als Belohnungs-Gefühl. Umgekehrt äußert sich die Absage an ethische Verantwortung bald in lähmenden Sinnkrisen; denn was zunächst als grenzenlose Freiheit gesehen wird, macht die bewusste wie unbewusste Entscheidungs-Arbeit schwerer, wenn man sich nicht ganz den animalischen „4F“ ausliefert.

 

Kurz gesagt, auch Ethik hilft gegen Verblödung. Und so komme ich schließlich zu den Wurzeln der Ethik und ihrem höchsten Ideal, der zwischenmenschlichen Solidarität als das selbstlose, oft auch liebende Zurückstellen eigener Interessen zugunsten der Interessen anderer. Bis heute wird über ihren Ursprung gestritten: einerseits wird diese Ethik seit der Aufklärung aus der Vernunft erklärt; nicht nur Christen leugnen das nicht, sie verstehen aber andererseits die Vernunft als Gottesgabe – was wiederum für rationale Humanisten unannehmbar ist.

Einen Ausweg aus diesem, die Umsetzung der Ethik lähmenden Dilemma zeigt nun überraschenderweise der Begründer der Diskurstheorie Jürgen Habermas, der heute wohl meist zitierte Philosoph unserer Zeit. Nach religionskritischen Jahren führt er nun aus: die Vernunft könne zwar erklären, warum „man“ Solidarität mit Mitmenschen üben soll; aber ob und wie diesem Appell gefolgt wird, sei eine ganz andere Frage. Nur Religion hingegen könne von ihren Gläubigen direkt und individuell diese Solidarität einmahnen. Dazu reimte schon Erich Kästner:

„Es gibt nichts Gutes, außer man tut es!“ – doch Gott lehrt „besser noch, Du tust es!“

Denn dieses „man“ kommt nirgends an, wo jeder ruft „Jockele, geh Du voran!“

 

So sollen wir also bitten und bten, mit mehr Überschaubarkeit und Ethik der Verblödung zu entgehen und mehr zwischenmenschliche Solidarität üben zu wollen.     Amen