Zum Über-Vernünftigen von Ethos und Gemeinsinn – Erste Antworten auf Letzte Fragen

Nachstehender Beitrag von Botschafter i.R. Dr. Heinrich Birnleitner in Briefform ist Teil  eines Gedankenaustauschs, der durch den Gastkommentar „Was Ist Europa, was will Europa?“ von Bot. i.R.Dr. Michael Breisky in „Die Presse“ vom 4.11.2021 ausgelöst wurde.

 

Lieber Michael!

Die von Dir verwendete Methode der Dichotomie Glauben – Wissen kann ich im Prinzip nur gutheißen, baut doch auch mein Buch „Das Projekt Überleben – anstelle uns abzuschaffen“ auf einem derartigen Gegensatzpaar, sozusagen als Bewegungsgesetz der Vorgänge nicht nur in Europa, sondern möglicherweise auf der ganzen Welt, und zwar seit unvordenklichen Zeiten, auf.

Hiebei pflichte ich der Skepsis gegenüber der Verwendung des Faktors Religion grundsätzlich bei. Möglicherweise würde man sich mit einer Rückbesinnung auf das Genus proximum, nämlich anstelle des Gegensatzpaares Glauben und Wissen auf jenes von Idee und Wirklichkeit, eher anfreunden können. Ich brauche nicht zu wiederholen, dass sich die Frage Idee und Wirklichkeit durch meine gesamten Ausführungen zu diesen Themen zieht. Ich erinnere mich an eine Deiner ersten Feststellungen in unseren Gesprächen dahingehend, dass wir im Westen natürlich, wenn es uns in Zukunft noch weiter geben sollte, wieder wesentlich mehr Idee brauchen werden.

Für mich ist von Interesse, ob wir das Gegensatzpaar Idee und Wirklichkeit verstärkt nicht auch als Dialektik verstehen könnten. Ein derartiger Zugang würde die Möglichkeit einer Synthese, nämlich das, was das Projekt Europa in den vergangen ca. 1000 Jahren so außergewöhnlich hervorgehoben hat, ergeben.

Wie könnte dieses Wechselspiel aussehen?

These könnte sein ein Bewusstseinsinhalt, der in Urzeiten sich von den Strebungen anderer höher entwickelter Lebewesen möglicherweise nicht sehr stark unterschieden haben mag. Unsere Vorfahren hatten ebenso wie alle anderen Lebewesen eine Programmierung ihres Lebensablaufes, bestehend hauptsächlich aus Ernährung, Verteidigung und Fortpflanzung in sich. Die Abkoppelung von uns damals noch ähnlicheren Lebewesen begann meines Erachtens mit der übermäßigen Entwicklung des Großhirns. Damit gingen zwei Dinge einher: Einerseits die Fähigkeit, Bewusstseinsinhalte zu entwickeln, die mit den erwähnten Grundfunktionen eigentlich direkt unmittelbar nichts zu tun haben mussten. Die zweite Wirkung der Entwicklung des Großhirns war und ist der Verlust der automatischen Steuerung des Menschen durch seine Grundfunktionen und damit die für uns Menschen bedeutende Herausbildung des freien Willens. Für Dich und mich als religionsaffine Menschen kann in diesem Vorgang die Absicht eines Schöpfers erblickt werden, Lebewesen zu haben, die ihn anerkennen, sich ihm zuwenden, aber von Ihm sozusagen aus freien Stücken auch abwenden können. Diese Schnittstelle zwischen altem und neuem Menschen ist meines Erachtens im Buch Genesis in der Verführung des Adam und dessen Zuwiderhandeln gegenüber dem Gebote Gottes, Äpfel vom verbotenen Baum nicht zu essen, zum Ausdruck gebracht. Seither hat sich das Bewusstsein von der eigenen Existenz des Menschen sukzessive immer weiter angereichert und differenziert. Du wirst möglicherweise beurteilen können, ob dieser besagte Prozess als Dialektik im Sinne einer Auseinandersetzung der jeweils herrschenden Bewusstseinsinhalte mit der umgebenden Wirklichkeit, etwa durch größere Siedlungen oder die Notwendigkeit für Menschengruppen einen Modus des gegenseitigen Auskommens zu finden, bedingt war und ist.

Von Bedeutung erscheint mir, dass den Menschen, um wieder Buch Genesis zu zitieren, auch nach deren Abnabelung von göttlicher Leitung bzw. Gott durch Überwuchern der angeborenen Steuerungsmechanismen durch die Großhirnrinde, über weite Bereiche der Zivilisationsentwicklung eine mehr oder weniger gut funktionierende Antenne für eine Verbindung, die über ihrer sichtbaren Existenz in der Welt situiert ist, geblieben ist. Hiebei ereignete sich, dass gelegentlich Menschen aufgetreten sind, die diese Beziehung auf besondere Art und Weise spürten und dann auch verkörperten.  Propheten und Gründer von Religionsgemeinschaften etwa. Beispielsweise hat Jesus Christus eine Lebensformel verkündet, die das Zusammenleben jedenfalls innerhalb seines jüdischen Volkes, auf die Basis der Liebe stellte. Dies könnte als Ergebnis des erwähnten dialektischen Prozesses als Synthese gesehen werden, in der die materiellen Gegebenheiten die jeweiligen dynamisierenden Antithesen darstellen. Unter den obigen Prämissen stellt sich zweifellos die Frage, wie es gerade in der westlichen Welt, und hier besonders im westeuropäischen Bereich, zu einer manchmal gänzlichen Ablehnung all dessen, was nicht gezählt, gemessen und gewogen werden kann, gekommen ist. Der Endpunkt dieser Entwicklung wird durch einschlägige Arbeiten der Mitglieder der Frankfurter Schule der kritischen Soziologie deutlich. Seit dem Zeitalter der Aufklärung und lange darüber hinaus, konnte die völlige Emanzipation vom Faktor Idee – jedenfalls insofern es sich um ein transzendentes, an einem göttlichen Prinzip aufgehängtes System handelt – als der größte denkbare Fortschritt dargestellt werden, da in der Wertehierarchie nunmehr der Mensch die denkbar oberste Position eingenommen hat. Damit werden Inhalte, etwa Prinzipien der Ethik, nämlich die Feststellung darüber, was gut oder böse ist, nicht mehr von Voraussagen in heiligen Büchern oder von Hohen Priestern oder einem Lehrer gemacht, sondern sind das Ergebnis eines maßgeblich gesellschaftlichen Konsenses. Der gesamtgesellschaftliche Konsens bildet im Sinne des dialektischen Prozesses die derzeitige Synthese.

Entgegen manchen Annahmen kann, wie sich nun zeigt, damit aber nicht vom Endpunkt eines Entwicklungsprozesses gesprochen werden. Hat doch selbst der derzeitige Hauptvertreter der Frankfurter Schule, nämlich Jürgen Habermas, erkannt, dass die oben dargestellte Entwicklungslinie sehr wohl zu begrüßenswerten, letztlich auch demokratischen, Prozessmechanismen geführt hat. Hiebei ist Jürgen Habermas jedoch bewusst geworden, dass diese Mechanismen und die Abstützung grundlegender Verhaltenswesen auf den gesellschaftlich relevanten Konsens sich als außerstande erweisen, in erforderlichem Maß Aussagen zu Grundlagen ethischen Handelns ist zu treffen, etwa zu dem was gut oder böse ist. Das Defizit wurde unter anderem in einem längeren Gespräch mit dem damaligen Kardinal Ratzinger angesprochen. Habermas verweist seither auf die Notwendigkeit von Normen und von einem Wertebewusstsein, das der gesellschaftlichen Willensbildung, etwa in den Parlamenten, vorgelagert ist. Der derzeitige Zustand der gesellschaftlichen Entwicklung im Westen, vor allem Europa, ist sohin der einer Fragestellung, einer Antithese.

Wie sehr die gegenwärtige Beschränkung der Bewusstseinsinhalte in der westlichen Welt auf die bloße Diskursethik und die Regelung materiellerer Verhältnisse auch nach Einschätzung von Jürgen Habermas als unzureichend zu bewerten ist, zeigen zuletzt die von Dir zitierten Ausführungen des Journalisten Christian Ortner über das Scheitern des Prinzips der westlichen Wissenschaft, des bloßen Wirklichkeitssinnes, gegenüber dem von den Taliban personifizierten Prinzip der Ideen in der Ausprägung des Islam.

So bedauerlich, eigentlich erschütternd, das Scheitern des westlichen Prinzips am Hindukusch ist, erweist sich dieses Donnergrollen doch als noch weit genug entfernt, um nicht – ähnlich wie unsere Vorfahren in Wien in den Jahrzehnten vor 1683, als sie die Stadtmauern und Basteien verstärkten – auch unser Gesellschaftssystem so weit in die Lage zu versetzen, dass nicht so wie in Afghanistan eine relativ kleine Schar entschlossener Kämpfer bei uns ganze Stadtteile, Städte, ja ganze Staaten unter ihre Kontrolle bringt.

Entwicklungen, die in Europa vorerst nur punktweise – in der Form von sogenanntem Terrorismus – in unmittelbarer Nachbarschaft in der Realität stattfinden, zeigen aber, dass die Entscheidung, ob wir wegen religiöser Inhalte aufeinander schießen, keineswegs nur bei uns liegt, da bei jedem Streit mindestens zwei Parteien involviert sind, wobei die andere Partei bekanntlich den Gebrauch von Waffen – in früheren Zeiten des Feuers und das des Schwertes – als verbindlichen Auftrag in wohl immer stärkerem Maße zu verinnerlichen scheint.

Wirklichkeitssinn, Wissenschaftlichkeit, Laizismus: wie immer diese westlichen Positionen umschrieben werden, einerseits; und die Bedeutung des Faktors Idee – von Dir auf den Begriff Glauben etwas eingeengt[1]  – andererseits, werden, wie auch Johannes Pichler sagt, vom Aufgeklärten an sich nebeneinander bestehen gelassen, wiewohl er die letzte Entscheidung im Wege des demokratischen Diskurses ermitteln will. Bei dieser Einschätzung zeigt sich einerseits die Wichtigkeit dieses Gedankens, andererseits die Grenze primär juristischer Betrachtungsweise. Entscheidend dafür, was die demokratische Mehrheit als richtig erkennt, sind zunächst die sich aus gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Gegebenheiten und Interessen resultierenden Positionen, etwa im Parlament. Darüber hinaus zeigt sich jedoch zufolge von Jürgen Habermas, dass der liberale Staat, der auf einer Grundlage prozessualer Rationalität beruht, seinen Bürger nicht zu tugendhaften (im Unterschied zu eigennützigen) Handlungen motivieren kann, weil „der aufgeklärten Vernunft die religiös konservierten Bilder vom sittlichen Ganzen – vom Reich Gottes auf Erden – als kollektiv verbindliche Ideale entgleiten müssen“.  Seine Vorstellung vom Verfassungspatriotismus hätte ein Ideal, das unterschiedliche Gruppen würde ansprechen können. Allerdings war dieser Verfassungspatriotismus ganz offensichtlich für Bürger weniger inspirierend als für den Professor. Man füge also Religion hinzu, um zu leisten, wozu Vernunft und Aufklärung offensichtlich nicht im Stande waren! So führte Habermas im Jahr 2004 in seinem bereits erwähnten Gespräch über „vorpolitische moralische Grundlagen eines freiheitlichen Staates“ an, der liberale Staat solle „mit allen (!) kulturellen Quellen schonend umgehen, aus denen sich das Normbewusstsein und die Solidarität von Bürgern speisen“. Habermas geht es in seinem Buch „Ein Bewusstsein von dem, was fehlt“ sohin darum, dass diese religiösen Werte im Übergang zum postsäkularen Zeitalter (seiner Meinung nach notwendigen Übergang) berücksichtigt werden müssen, weil sie dazu dienen können, den Zusammenhalt von Gesellschaften zu gewährleisten. Seine Hoffnung geht dahin, dass Religion eingesetzt werden könnte, um Sozialbrüchen und der Entfremdung vom modernen liberalen Staat entgegen zu wirken. Er beschrieb 9/11 im Jahr 2001 als eine Reaktion auf „eine beschleunigte und radikal entwurzelte Modernisierung“. Diese Einschätzung gilt offenbar auch für weitere, ähnlich gelagerte Phänomene und Entwicklungen. Die Ausführungen Jürgen Habermas betreffend zeigen nicht zuletzt in seinem eigenen intellektuellen System die Schwierigkeiten, ein relativ reibungsloses Funktionieren moderner Gesellschaften aufrecht zu erhalten.

Wenn ich jetzt in weiterer Verfolgung des Denkens von Jürgen Habermas seine Betrachtungen vom größeren und umfassenden Begriff des Faktors Idee auf jenen des Faktors Religion einschränke, dann erscheint es angebracht, Skizzen für einen derartigen geistigen Überbau, dargestellt als Religion, anzufertigen.

Einem solchen geistigen Überbau könnte in zwei Verfahrensschritten nähergetreten werden, nämlich in der Frage zunächst nach dem Gefäß für eine Religion einerseits und nach dessen Inhalt andererseits. Diese beiden Komponenten können bekanntlich auch im derzeitigen Christentum identifiziert werden: nämlich im Konzept des Primats des Faktors Idee im Sinne des Philosophen Platon einerseits, als Gefäß und der Lehre Christi als dessen Inhalt andererseits.

1) Das Gefäß

Die Funktion einer Religion in der postsäkularen Gesellschaft kann bereits aus den vorgehenden Ausführungen in ihren groben Umzügen erschlossen werden. Elemente hierfür können im Einzelnen sein:

  1. a) Die Bedachtnahme und der Rückgriff auf das, was bereits als Erinnerung auf das, was jedenfalls in einer Vielzahl von Menschen – obwohl durch die Zivilisation weitgehend verschüttet – nach wie vor vorhanden ist, nämlich im Gefühl einer gewissen Sehnsucht nach dem Verlorenen. Diese Sehnsucht tritt uns etwa im Judentum in der Erwartung des Messias als Erlöser von der Erbsünde und damit auch der Rückführung der Menschheit in das Paradies entgegen. Dieses Bedürfnis im Menschen ist, wie bereits ausgeführt die Resultante der Inadäquanz der individuellen und auch der kollektiven Steuerungsmechanismen von uns Menschen als Folge der überproportionalen Entwicklung des Großhirns, denen keine adäquaten Steuerungsmechanismen mitgewachsen sind.
  2. b) Von anderer Seite, jedoch nicht ganz unähnlich, hat Ludwig Feuerbach in seinem Buch „Das Wesen des Christentums“ bereits die Funktion einer Religion umschrieben, nämlich als Projektion der höchsten Aspirationen einer Gesellschaft.
  3. c) Wir finden Bausteine für eine Religion

Wie immer die Art und Weise gestaltet ist, in der die derzeit bestehenden Weltreligionen diesen Zielvorstellungen Rechnung tragen, erscheinen die nachstehenden Bausteine hierfür unerlässlich:

  • Über die Aussagen, die die Situation des einzelnen Menschen betreffen, hinaus ist die Tatsache zu beachten, dass dessen irdisches Leben nur ein Moment im langen Fluss der Zeit ist und der Blick sowohl in die Vergangenheit wie auch auf die Zukunft zu richten ist.
  • Die Zukunft in die Betrachtung einzubeziehen, erfordert Aussagen darüber, wie das Überleben des Einzelnen, einer Gruppe, ja der Gesamtheit einer Religionsgemeinschaft, möglicherweise der gesamten Menschheit, gewährleistet werden kann.
  • Wie können der männliche und der weibliche Teil der Gesellschaft so zusammenwirken, dass sie das Überleben der Einzelnen in eigenen Nachkommen zwecks Weitererhalts der Gruppe in ihrer Identität sichern können?
  • Wie sehen die Modalitäten des Schutzes der identitätsbildenden Faktoren aus, wie also kann eine Religion die Dinge des Lebens betrachten, ohne eine existenzielle Gefährdung von anderen Lebensentwürfen von Generation zu Generation weitergeben?

 

2) Der Inhalt

Das Beispiel Platons zeigt, dass die bloße Fixierung des Blickes auf abstrakte Konzepte, auf Ideen wie Gerechtigkeit und Schönheit, allein nicht ausreicht, um im Bewusstsein einer größeren Anzahl von Menschen Fuß zu fassen und deren Persönlichkeiten in ihrer Gesamtheit zu prägen. Bekanntlich hat dessen Schüler Aristoteles diese Sichtweise in weiten Bereichen nicht nur abgelehnt, sondern ein konträres Gedankensystem, aufbauend auf der sichtbaren Wirklichkeit, entwickelt. Dazu, dass ein Mensch, eine ganze Gesellschaft, die Bereitschaft entwickelt, ein Ideenkonstrukt in einem Maße anzunehmen, wie dies bei einem Computer durch Einspielung eines Programmes der Fall ist, müssen für den Menschen all jene Voraussetzungen erfüllt werden, die bereits weiter oben diskutiert wurden. Dies beginnt mit einer plausiblen Antwort auf die Frage, woher der Mensch kommt, was seine Rolle auf dieser Welt darstellt sowie wohin er nach dem Ableben geht. Hiebei erscheint es als wesentlich, dass von einer Religion jene Schichten der Persönlichkeit, nämlich sowohl des Unterbewusstseins wie des Bewusstseins, angesprochen werden, sodass der Mensch, was den jüdisch-christlichen Bereich betrifft, in seinen fundamentalen Bestrebungen und Regungen letztlich wieder dort anknüpfen kann, wo er noch im Paradies und noch im Einklang mit dem Urgrund seines Seins sich befunden hat, was eigentlich als Gott bezeichnet werden kann. In dem Maß, in dem der Mensch durch die Entwicklung des Großhirns die sichere Führung seines Lebens infolge Zurückbleibens entsprechender, dem Menschen innewohnender Führungsreflexe weitgehend verlor, erweist er sich als verunsichert.

Zur Ausfüllung des Vakuums zwischen überbordender Entwicklung des Intellektes und zurückgebliebener Steuerung desselben, hat es unter den jeweiligen materiellen Gegebenheiten immer wieder Persönlichkeiten gegeben, die weltweit, manchmal zu gleichen Zeiten, derartige Inhalte für die Produktion von Lebenssinn und Inhalte für die Lebensgestaltung entwickelt haben. Die Zielsetzung dieser Aussagen war die immer stärkere Optimierung des für den Einzelnen wie für die Gesamtgesellschaft Guten, und zwar auf einer stetig höher situierten Stufe. Die Ausbildung etwa des Eingottglaubens durch den Pharao Echnaton und dessen Übernahme durch die Israeliten – wie dies von Sigmund Freud in seinem Buch „Ein Mensch namens Moses“ dargestellt wurde – ist ein Beispiel hierfür. All diese Konzepte wurden mit der Zielsetzung entwickelt, dass sie der jeweiligen Gesellschaft und deren einzelnen Mitgliedern Nutzen bringen sollen, und haben dadurch auch den Charakter des Heiligen erhalten.

Bekanntlich war ein derartiges Konzept immer höherer Ordnung schließlich und endlich auch für den traditionellen Götterfiguren verpflichteten Frankenkönig Clodwig entscheidend, im Jahr 495 die Lehre Christi als überlegene, heilbringende Lebensformel zu übernehmen und maßgeblich dafür den Christengott als stärkeren Gott anzuerkennen.

Rückblickend ist in der späten Antike durch damals wirkende Neuplatoniker wie Plotin das ideelle Gefäß geschaffen worden, das die Aufnahme jener Inhalte, wie die Heiligkeit Gottvaters, aber auch der Person Christi, durch die gesamte Bevölkerung der damaligen Spätantike, und später auch auf die damaligen Barbarenvölker, ermöglicht hat.

Für das Bewusstsein des einzelnen Menschen, aber auch einer gesamten Gesellschaft, ist sohin der Inhalt dessen, was als heilbringend empfunden wird – und zwar über das bloße Hier und Jetzt hinaus – viel mehr als bloß eine philosophische Lebensanleitung. Dies ist unabhängig davon, ob man nun dem Schöpfer des Christentums göttlichen Charakter beimisst oder nicht: die Lehre Christi erscheint geeignet, das Bewusstsein des Menschen bis in alle Winkel und Ecken hinein auszuleuchten. Nicht nur das: diese Lehre führt das Bewusstsein des Menschen, wenn dieser es will, zurück bis in dessen Anfänge. Gleichzeitig vermittelt sie auch einen Blick in die Unendlichkeit der Zukunft. Gläubige Christen sind bereit, jedenfalls gehalten, dieses Lehrgebäude als Offenbarung Gottes zu beachten. Als heilbringend, jedenfalls als substanziellem Fortschritt kann – auch für den Außenstehenden und Skeptiker – etwa durch die Einführung des Faktors Liebe als Grundgesetz für das menschliche Zusammenleben in der Menschheitsentwicklung von einem entscheidenden Fortschritt, ja möglicherweise Durchbruch, gesprochen werden.

Unseren Gesellschaften sind einige Glaubenselemente, die noch bis in die jüngere Vergangenheit im Vordergrund standen, offenbar schwer zugänglich geworden. Wie etwa die Idee der Schuldhaftigkeit des Menschen, die der Kirchenlehrer Augustinus im Sinne des iranischen Religionsgründers Mani und angesichts des im Untergang befindlichen römischen Weltreichs in den Vordergrund rückte – als Grund für die damalige Katastrophe – , und der Gedanke der Erlösung hievon.

Nach wie vor verfügen die Ideen rund um das Leiden und die Auferstehung Christi über eine wohl unvergleichliche Eindrücklichkeit. Dennoch scheint vielen heutigen Menschen das tiefere Verständnis hierfür abhandengekommen zu sein: als Folge eines allgemeinen Verlustes an auf die Erbsünde zurückzuführenden Schuldgefühlen.

Doch trotz des offenbar gering gewordenen Verständnisses der heutigen Menschen für die Erlösungstat Christi verfügt das Christentum über eine weitere entscheidende Idee, nämlich die Gotteseigenschaft Christi. Zufolge dieser Idee ist Christus eines – göttlichen – Wesens mit dem Vater. Die Auswirkung auf den Menschen erweist sich weltweit als von einmaliger Qualität. Weil nämlich Christus nicht nur als Gott, sondern gleichzeitig auch als Mensch begriffen wird, ist in seiner Person ein Bindeglied zwischen Gottvater – dem Gott Jawhe der Juden und dem Gott Allah der Muslime – und dem Menschen gegeben. Dieser Umstand – Jesus nannte die Jünger seine Brüder – bedeutet jedenfalls im Vergleich mit dem Judentum und dem Islam eine einzigartige Erhöhung des Menschseins. Entsprechend verfügt die Lehre Christi über eine nirgendwo anders gegebene Aufwertung des Menschseins in die Richtung der göttlichen Ebene – noch weit über die Aussage in Psalm 8 hinaus, die den Menschen als nur wenig geringer als Gott begreift.

So könnte die Gedankenwelt rund um die Geburt Christi als Ausgangspunkt für eine Wertschätzung des Menschseins ebenso fungieren wie für eine erneuerte Positionierung und Fundierung dessen, was die Einzigartigkeit des christlichen Europas bisher ausgemacht hat. Zentraler Ansatzpunkt hierfür ist die nirgendwo anders vorhanden Symbiose zwischen den zwei maßgeblichen Gottesvorstellungen auf der Welt, nämlich der deduktiv-semitischen vom Gottvater einerseits und er induktiv-indoeuropäischen von Christus andererseits. Hierbei bedeutet die Situierung Christi im Gottesrang die bereits erwähnte Erhöhung des Menschseins

Dass der Religionen wegen Kriege geführt wurden – und wie sich im Hindukusch gezeigt hat, derzeit im Gange sind und möglichweise noch bevorstehen – tut der auch von Jürgen Habermas erkannten Notwendigkeit religiöser Inhalte offenbar keinen Abbruch. Gerade das Debakel in Afghanistan hat gezeigt, dass bloße Begriffe wie Verfassungspatriotismus, kommunikative Vernunft oder Diskursethik ohne diese beseelenden, tiefer liegenden Bewusstseinsinhalte nicht ausreichen, um anderen, oft aggressiven gedanklichen, politischen und militärischen Systemen standhalten zu können.

Habermas hatte früher festgehalten, dass „die Autorität des Heiligen sukzessive durch die Autorität eines jeweils für begründet gehaltenen Konsenses ersetzt wird“ (Theorie des kommunikativen Handelns). Ein späteres Buch, nämlich in „Ein Bewusstsein von dem was fehlt“ enthält jedoch eine ganz andere Aussage, nämlich „unter den modernen Gesellschaften wird nur diejenige, die wesentliche Inhalte ihrer religiösen, über das bloß Humane hinausweisenden Überlieferungen in die Bezirke der Profanität hineinbringen kann, auch die Substanz des Humanen erretten können“.

Dass der europäische höchstgerichtliche Judikatur-Kanon nun kritisiert wird, jedenfalls kritisiert werden darf, kann wohl als demokratischer Vorgang bezeichnet werden. Gerade die Ausführungen des Rechtsanwaltes Dr. Tassilo Valentin in seiner Kolumne vom 3. Oktober und eine Woche zuvor zu dem Titel „Der Europäische Gerichtshof muss gestoppt werden!“ zeigen dies auf. Meines Erachtens müssen zweifellos diesbezügliche Rechtsquellen wie der EU-V, die EMRK, weiters auch die Genfer Asylrechtskonvention kritisierbar sein, im Sinne der mittlerweile geänderten geo-politischen  Umstände und der Massenimmigration, in den zuständigen Gremien jedenfalls diskutiert werden. Dies gilt etwa für die derzeitige Vernachlässigung der Rechte des einheimischen Bevölkerungsteiles auf Schutz seiner kulturellen Identität im Sinne etwa des Artikels 19 Staatsgrundgesetz, demzufolge „jeder Volksstamm (des Staates) ein unverletzliches Recht auf Wahrung und Pflege seiner Nationalität und Sprache“ hat, weiters die ungenügende Beachtung der im Art. 2 des ersten ZP zur  EMRK stipulierten Verpflichtung des Staates „ bei der Ausübung der von ihm auf dem Gebiete der Erziehung und des Unterrichtes übernommenen Aufgaben das Recht der Eltern zu achten, die Erziehung und den Unterricht entsprechend ihren eigenen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen sicherzustellen“, sowie im Besonderen hinsichtlich der Ausgestaltung des Asylrechtes. Ich selbst war in Straßburg einige Jahre im Ministerkommitee des ER mit der Ausarbeitung einschlägiger Texte befasst. Von einem Verlassen der EMRK, kann und sollte, wie auch Johannes Pichler beizupflichten ist, keine Rede sein: wohl von deren überfälliger Anpassung.

Nochmals darf ich Deine Aussage so stark unterstützen wie ich nur kann, nämlich, dass ohne glaubhafte Antwort auf die letzten Fragen der Westen verloren ist. Deine Formulierung steht gedanklich im engen Einklang mit der oben zitierten Feststellung von Jürgen Habermas betreffend die Kriterien für das Überleben der modernen Gesellschaften.

 

Mit meinen besten Grüßen

Herzlichst

Heinrich

[1] Anders als von H. Birnleitner vermutet, ist mit „Glauben“ in der von  M. Breisky herangezogenen Dichotomie nicht nur transzendenter Glaube, sondern auch jede nicht auf objektivierbarem Wissen beruhende Annahme gemeint (also „glauben heißt nix wissen“).

 

 

Nachstehender Beitrag von Botschafter i.R. Dr. Heinrich Birnleitner in Briefform ist Teil  eines Gedankenaustauschs, der durch den Gastkommentar „Was Ist Europa, was will Europa?“ von Bot. i.R.Dr. Michael Breisky in „Die Presse“ vom 4.11.2021 ausgelöst wurde.

 

Lieber Michael!

Die von Dir verwendete Methode der Dichotomie Glauben – Wissen kann ich im Prinzip nur gutheißen, baut doch auch mein Buch „Das Projekt Überleben – anstelle uns abzuschaffen“ auf einem derartigen Gegensatzpaar, sozusagen als Bewegungsgesetz der Vorgänge nicht nur in Europa, sondern möglicherweise auf der ganzen Welt, und zwar seit unvordenklichen Zeiten, auf.

Hiebei pflichte ich der Skepsis gegenüber der Verwendung des Faktors Religion grundsätzlich bei. Möglicherweise würde man sich mit einer Rückbesinnung auf das Genus proximum, nämlich anstelle des Gegensatzpaares Glauben und Wissen auf jenes von Idee und Wirklichkeit, eher anfreunden können. Ich brauche nicht zu wiederholen, dass sich die Frage Idee und Wirklichkeit durch meine gesamten Ausführungen zu diesen Themen zieht. Ich erinnere mich an eine Deiner ersten Feststellungen in unseren Gesprächen dahingehend, dass wir im Westen natürlich, wenn es uns in Zukunft noch weiter geben sollte, wieder wesentlich mehr Idee brauchen werden.

Für mich ist von Interesse, ob wir das Gegensatzpaar Idee und Wirklichkeit verstärkt nicht auch als Dialektik verstehen könnten. Ein derartiger Zugang würde die Möglichkeit einer Synthese, nämlich das, was das Projekt Europa in den vergangen ca. 1000 Jahren so außergewöhnlich hervorgehoben hat, ergeben.

Wie könnte dieses Wechselspiel aussehen?

These könnte sein ein Bewusstseinsinhalt, der in Urzeiten sich von den Strebungen anderer höher entwickelter Lebewesen möglicherweise nicht sehr stark unterschieden haben mag. Unsere Vorfahren hatten ebenso wie alle anderen Lebewesen eine Programmierung ihres Lebensablaufes, bestehend hauptsächlich aus Ernährung, Verteidigung und Fortpflanzung in sich. Die Abkoppelung von uns damals noch ähnlicheren Lebewesen begann meines Erachtens mit der übermäßigen Entwicklung des Großhirns. Damit gingen zwei Dinge einher: Einerseits die Fähigkeit, Bewusstseinsinhalte zu entwickeln, die mit den erwähnten Grundfunktionen eigentlich direkt unmittelbar nichts zu tun haben mussten. Die zweite Wirkung der Entwicklung des Großhirns war und ist der Verlust der automatischen Steuerung des Menschen durch seine Grundfunktionen und damit die für uns Menschen bedeutende Herausbildung des freien Willens. Für Dich und mich als religionsaffine Menschen kann in diesem Vorgang die Absicht eines Schöpfers erblickt werden, Lebewesen zu haben, die ihn anerkennen, sich ihm zuwenden, aber von Ihm sozusagen aus freien Stücken auch abwenden können. Diese Schnittstelle zwischen altem und neuem Menschen ist meines Erachtens im Buch Genesis in der Verführung des Adam und dessen Zuwiderhandeln gegenüber dem Gebote Gottes, Äpfel vom verbotenen Baum nicht zu essen, zum Ausdruck gebracht. Seither hat sich das Bewusstsein von der eigenen Existenz des Menschen sukzessive immer weiter angereichert und differenziert. Du wirst möglicherweise beurteilen können, ob dieser besagte Prozess als Dialektik im Sinne einer Auseinandersetzung der jeweils herrschenden Bewusstseinsinhalte mit der umgebenden Wirklichkeit, etwa durch größere Siedlungen oder die Notwendigkeit für Menschengruppen einen Modus des gegenseitigen Auskommens zu finden, bedingt war und ist.

Von Bedeutung erscheint mir, dass den Menschen, um wieder Buch Genesis zu zitieren, auch nach deren Abnabelung von göttlicher Leitung bzw. Gott durch Überwuchern der angeborenen Steuerungsmechanismen durch die Großhirnrinde, über weite Bereiche der Zivilisationsentwicklung eine mehr oder weniger gut funktionierende Antenne für eine Verbindung, die über ihrer sichtbaren Existenz in der Welt situiert ist, geblieben ist. Hiebei ereignete sich, dass gelegentlich Menschen aufgetreten sind, die diese Beziehung auf besondere Art und Weise spürten und dann auch verkörperten.  Propheten und Gründer von Religionsgemeinschaften etwa. Beispielsweise hat Jesus Christus eine Lebensformel verkündet, die das Zusammenleben jedenfalls innerhalb seines jüdischen Volkes, auf die Basis der Liebe stellte. Dies könnte als Ergebnis des erwähnten dialektischen Prozesses als Synthese gesehen werden, in der die materiellen Gegebenheiten die jeweiligen dynamisierenden Antithesen darstellen. Unter den obigen Prämissen stellt sich zweifellos die Frage, wie es gerade in der westlichen Welt, und hier besonders im westeuropäischen Bereich, zu einer manchmal gänzlichen Ablehnung all dessen, was nicht gezählt, gemessen und gewogen werden kann, gekommen ist. Der Endpunkt dieser Entwicklung wird durch einschlägige Arbeiten der Mitglieder der Frankfurter Schule der kritischen Soziologie deutlich. Seit dem Zeitalter der Aufklärung und lange darüber hinaus, konnte die völlige Emanzipation vom Faktor Idee – jedenfalls insofern es sich um ein transzendentes, an einem göttlichen Prinzip aufgehängtes System handelt – als der größte denkbare Fortschritt dargestellt werden, da in der Wertehierarchie nunmehr der Mensch die denkbar oberste Position eingenommen hat. Damit werden Inhalte, etwa Prinzipien der Ethik, nämlich die Feststellung darüber, was gut oder böse ist, nicht mehr von Voraussagen in heiligen Büchern oder von Hohen Priestern oder einem Lehrer gemacht, sondern sind das Ergebnis eines maßgeblich gesellschaftlichen Konsenses. Der gesamtgesellschaftliche Konsens bildet im Sinne des dialektischen Prozesses die derzeitige Synthese.

Entgegen manchen Annahmen kann, wie sich nun zeigt, damit aber nicht vom Endpunkt eines Entwicklungsprozesses gesprochen werden. Hat doch selbst der derzeitige Hauptvertreter der Frankfurter Schule, nämlich Jürgen Habermas, erkannt, dass die oben dargestellte Entwicklungslinie sehr wohl zu begrüßenswerten, letztlich auch demokratischen, Prozessmechanismen geführt hat. Hiebei ist Jürgen Habermas jedoch bewusst geworden, dass diese Mechanismen und die Abstützung grundlegender Verhaltenswesen auf den gesellschaftlich relevanten Konsens sich als außerstande erweisen, in erforderlichem Maß Aussagen zu Grundlagen ethischen Handelns ist zu treffen, etwa zu dem was gut oder böse ist. Das Defizit wurde unter anderem in einem längeren Gespräch mit dem damaligen Kardinal Ratzinger angesprochen. Habermas verweist seither auf die Notwendigkeit von Normen und von einem Wertebewusstsein, das der gesellschaftlichen Willensbildung, etwa in den Parlamenten, vorgelagert ist. Der derzeitige Zustand der gesellschaftlichen Entwicklung im Westen, vor allem Europa, ist sohin der einer Fragestellung, einer Antithese.

Wie sehr die gegenwärtige Beschränkung der Bewusstseinsinhalte in der westlichen Welt auf die bloße Diskursethik und die Regelung materiellerer Verhältnisse auch nach Einschätzung von Jürgen Habermas als unzureichend zu bewerten ist, zeigen zuletzt die von Dir zitierten Ausführungen des Journalisten Christian Ortner über das Scheitern des Prinzips der westlichen Wissenschaft, des bloßen Wirklichkeitssinnes, gegenüber dem von den Taliban personifizierten Prinzip der Ideen in der Ausprägung des Islam.

So bedauerlich, eigentlich erschütternd, das Scheitern des westlichen Prinzips am Hindukusch ist, erweist sich dieses Donnergrollen doch als noch weit genug entfernt, um nicht – ähnlich wie unsere Vorfahren in Wien in den Jahrzehnten vor 1683, als sie die Stadtmauern und Basteien verstärkten – auch unser Gesellschaftssystem so weit in die Lage zu versetzen, dass nicht so wie in Afghanistan eine relativ kleine Schar entschlossener Kämpfer bei uns ganze Stadtteile, Städte, ja ganze Staaten unter ihre Kontrolle bringt.

Entwicklungen, die in Europa vorerst nur punktweise – in der Form von sogenanntem Terrorismus – in unmittelbarer Nachbarschaft in der Realität stattfinden, zeigen aber, dass die Entscheidung, ob wir wegen religiöser Inhalte aufeinander schießen, keineswegs nur bei uns liegt, da bei jedem Streit mindestens zwei Parteien involviert sind, wobei die andere Partei bekanntlich den Gebrauch von Waffen – in früheren Zeiten des Feuers und das des Schwertes – als verbindlichen Auftrag in wohl immer stärkerem Maße zu verinnerlichen scheint.

Wirklichkeitssinn, Wissenschaftlichkeit, Laizismus: wie immer diese westlichen Positionen umschrieben werden, einerseits; und die Bedeutung des Faktors Idee – von Dir auf den Begriff Glauben etwas eingeengt[29]  – andererseits, werden, wie auch Johannes Pichler sagt, vom Aufgeklärten an sich nebeneinander bestehen gelassen, wiewohl er die letzte Entscheidung im Wege des demokratischen Diskurses ermitteln will. Bei dieser Einschätzung zeigt sich einerseits die Wichtigkeit dieses Gedankens, andererseits die Grenze primär juristischer Betrachtungsweise. Entscheidend dafür, was die demokratische Mehrheit als richtig erkennt, sind zunächst die sich aus gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Gegebenheiten und Interessen resultierenden Positionen, etwa im Parlament. Darüber hinaus zeigt sich jedoch zufolge von Jürgen Habermas, dass der liberale Staat, der auf einer Grundlage prozessualer Rationalität beruht, seinen Bürger nicht zu tugendhaften (im Unterschied zu eigennützigen) Handlungen motivieren kann, weil „der aufgeklärten Vernunft die religiös konservierten Bilder vom sittlichen Ganzen – vom Reich Gottes auf Erden – als kollektiv verbindliche Ideale entgleiten müssen“.  Seine Vorstellung vom Verfassungspatriotismus hätte ein Ideal, das unterschiedliche Gruppen würde ansprechen können. Allerdings war dieser Verfassungspatriotismus ganz offensichtlich für Bürger weniger inspirierend als für den Professor. Man füge also Religion hinzu, um zu leisten, wozu Vernunft und Aufklärung offensichtlich nicht im Stande waren! So führte Habermas im Jahr 2004 in seinem bereits erwähnten Gespräch über „vorpolitische moralische Grundlagen eines freiheitlichen Staates“ an, der liberale Staat solle „mit allen (!) kulturellen Quellen schonend umgehen, aus denen sich das Normbewusstsein und die Solidarität von Bürgern speisen“. Habermas geht es in seinem Buch „Ein Bewusstsein von dem, was fehlt“ sohin darum, dass diese religiösen Werte im Übergang zum postsäkularen Zeitalter (seiner Meinung nach notwendigen Übergang) berücksichtigt werden müssen, weil sie dazu dienen können, den Zusammenhalt von Gesellschaften zu gewährleisten. Seine Hoffnung geht dahin, dass Religion eingesetzt werden könnte, um Sozialbrüchen und der Entfremdung vom modernen liberalen Staat entgegen zu wirken. Er beschrieb 9/11 im Jahr 2001 als eine Reaktion auf „eine beschleunigte und radikal entwurzelte Modernisierung“. Diese Einschätzung gilt offenbar auch für weitere, ähnlich gelagerte Phänomene und Entwicklungen. Die Ausführungen Jürgen Habermas betreffend zeigen nicht zuletzt in seinem eigenen intellektuellen System die Schwierigkeiten, ein relativ reibungsloses Funktionieren moderner Gesellschaften aufrecht zu erhalten.

Wenn ich jetzt in weiterer Verfolgung des Denkens von Jürgen Habermas seine Betrachtungen vom größeren und umfassenden Begriff des Faktors Idee auf jenen des Faktors Religion einschränke, dann erscheint es angebracht, Skizzen für einen derartigen geistigen Überbau, dargestellt als Religion, anzufertigen.

Einem solchen geistigen Überbau könnte in zwei Verfahrensschritten nähergetreten werden, nämlich in der Frage zunächst nach dem Gefäß für eine Religion einerseits und nach dessen Inhalt andererseits. Diese beiden Komponenten können bekanntlich auch im derzeitigen Christentum identifiziert werden: nämlich im Konzept des Primats des Faktors Idee im Sinne des Philosophen Platon einerseits, als Gefäß und der Lehre Christi als dessen Inhalt andererseits.

1) Das Gefäß

Die Funktion einer Religion in der postsäkularen Gesellschaft kann bereits aus den vorgehenden Ausführungen in ihren groben Umzügen erschlossen werden. Elemente hierfür können im Einzelnen sein:

  1. a) Die Bedachtnahme und der Rückgriff auf das, was bereits als Erinnerung auf das, was jedenfalls in einer Vielzahl von Menschen – obwohl durch die Zivilisation weitgehend verschüttet – nach wie vor vorhanden ist, nämlich im Gefühl einer gewissen Sehnsucht nach dem Verlorenen. Diese Sehnsucht tritt uns etwa im Judentum in der Erwartung des Messias als Erlöser von der Erbsünde und damit auch der Rückführung der Menschheit in das Paradies entgegen. Dieses Bedürfnis im Menschen ist, wie bereits ausgeführt die Resultante der Inadäquanz der individuellen und auch der kollektiven Steuerungsmechanismen von uns Menschen als Folge der überproportionalen Entwicklung des Großhirns, denen keine adäquaten Steuerungsmechanismen mitgewachsen sind.
  2. b) Von anderer Seite, jedoch nicht ganz unähnlich, hat Ludwig Feuerbach in seinem Buch „Das Wesen des Christentums“ bereits die Funktion einer Religion umschrieben, nämlich als Projektion der höchsten Aspirationen einer Gesellschaft.
  3. c) Wir finden Bausteine für eine Religion

Wie immer die Art und Weise gestaltet ist, in der die derzeit bestehenden Weltreligionen diesen Zielvorstellungen Rechnung tragen, erscheinen die nachstehenden Bausteine hierfür unerlässlich:

  • Über die Aussagen, die die Situation des einzelnen Menschen betreffen, hinaus ist die Tatsache zu beachten, dass dessen irdisches Leben nur ein Moment im langen Fluss der Zeit ist und der Blick sowohl in die Vergangenheit wie auch auf die Zukunft zu richten ist.
  • Die Zukunft in die Betrachtung einzubeziehen, erfordert Aussagen darüber, wie das Überleben des Einzelnen, einer Gruppe, ja der Gesamtheit einer Religionsgemeinschaft, möglicherweise der gesamten Menschheit, gewährleistet werden kann.
  • Wie können der männliche und der weibliche Teil der Gesellschaft so zusammenwirken, dass sie das Überleben der Einzelnen in eigenen Nachkommen zwecks Weitererhalts der Gruppe in ihrer Identität sichern können?
  • Wie sehen die Modalitäten des Schutzes der identitätsbildenden Faktoren aus, wie also kann eine Religion die Dinge des Lebens betrachten, ohne eine existenzielle Gefährdung von anderen Lebensentwürfen von Generation zu Generation weitergeben?

 

2) Der Inhalt

Das Beispiel Platons zeigt, dass die bloße Fixierung des Blickes auf abstrakte Konzepte, auf Ideen wie Gerechtigkeit und Schönheit, allein nicht ausreicht, um im Bewusstsein einer größeren Anzahl von Menschen Fuß zu fassen und deren Persönlichkeiten in ihrer Gesamtheit zu prägen. Bekanntlich hat dessen Schüler Aristoteles diese Sichtweise in weiten Bereichen nicht nur abgelehnt, sondern ein konträres Gedankensystem, aufbauend auf der sichtbaren Wirklichkeit, entwickelt. Dazu, dass ein Mensch, eine ganze Gesellschaft, die Bereitschaft entwickelt, ein Ideenkonstrukt in einem Maße anzunehmen, wie dies bei einem Computer durch Einspielung eines Programmes der Fall ist, müssen für den Menschen all jene Voraussetzungen erfüllt werden, die bereits weiter oben diskutiert wurden. Dies beginnt mit einer plausiblen Antwort auf die Frage, woher der Mensch kommt, was seine Rolle auf dieser Welt darstellt sowie wohin er nach dem Ableben geht. Hiebei erscheint es als wesentlich, dass von einer Religion jene Schichten der Persönlichkeit, nämlich sowohl des Unterbewusstseins wie des Bewusstseins, angesprochen werden, sodass der Mensch, was den jüdisch-christlichen Bereich betrifft, in seinen fundamentalen Bestrebungen und Regungen letztlich wieder dort anknüpfen kann, wo er noch im Paradies und noch im Einklang mit dem Urgrund seines Seins sich befunden hat, was eigentlich als Gott bezeichnet werden kann. In dem Maß, in dem der Mensch durch die Entwicklung des Großhirns die sichere Führung seines Lebens infolge Zurückbleibens entsprechender, dem Menschen innewohnender Führungsreflexe weitgehend verlor, erweist er sich als verunsichert.

Zur Ausfüllung des Vakuums zwischen überbordender Entwicklung des Intellektes und zurückgebliebener Steuerung desselben, hat es unter den jeweiligen materiellen Gegebenheiten immer wieder Persönlichkeiten gegeben, die weltweit, manchmal zu gleichen Zeiten, derartige Inhalte für die Produktion von Lebenssinn und Inhalte für die Lebensgestaltung entwickelt haben. Die Zielsetzung dieser Aussagen war die immer stärkere Optimierung des für den Einzelnen wie für die Gesamtgesellschaft Guten, und zwar auf einer stetig höher situierten Stufe. Die Ausbildung etwa des Eingottglaubens durch den Pharao Echnaton und dessen Übernahme durch die Israeliten – wie dies von Sigmund Freud in seinem Buch „Ein Mensch namens Moses“ dargestellt wurde – ist ein Beispiel hierfür. All diese Konzepte wurden mit der Zielsetzung entwickelt, dass sie der jeweiligen Gesellschaft und deren einzelnen Mitgliedern Nutzen bringen sollen, und haben dadurch auch den Charakter des Heiligen erhalten.

Bekanntlich war ein derartiges Konzept immer höherer Ordnung schließlich und endlich auch für den traditionellen Götterfiguren verpflichteten Frankenkönig Clodwig entscheidend, im Jahr 495 die Lehre Christi als überlegene, heilbringende Lebensformel zu übernehmen und maßgeblich dafür den Christengott als stärkeren Gott anzuerkennen.

Rückblickend ist in der späten Antike durch damals wirkende Neuplatoniker wie Plotin das ideelle Gefäß geschaffen worden, das die Aufnahme jener Inhalte, wie die Heiligkeit Gottvaters, aber auch der Person Christi, durch die gesamte Bevölkerung der damaligen Spätantike, und später auch auf die damaligen Barbarenvölker, ermöglicht hat.

Für das Bewusstsein des einzelnen Menschen, aber auch einer gesamten Gesellschaft, ist sohin der Inhalt dessen, was als heilbringend empfunden wird – und zwar über das bloße Hier und Jetzt hinaus – viel mehr als bloß eine philosophische Lebensanleitung. Dies ist unabhängig davon, ob man nun dem Schöpfer des Christentums göttlichen Charakter beimisst oder nicht: die Lehre Christi erscheint geeignet, das Bewusstsein des Menschen bis in alle Winkel und Ecken hinein auszuleuchten. Nicht nur das: diese Lehre führt das Bewusstsein des Menschen, wenn dieser es will, zurück bis in dessen Anfänge. Gleichzeitig vermittelt sie auch einen Blick in die Unendlichkeit der Zukunft. Gläubige Christen sind bereit, jedenfalls gehalten, dieses Lehrgebäude als Offenbarung Gottes zu beachten. Als heilbringend, jedenfalls als substanziellem Fortschritt kann – auch für den Außenstehenden und Skeptiker – etwa durch die Einführung des Faktors Liebe als Grundgesetz für das menschliche Zusammenleben in der Menschheitsentwicklung von einem entscheidenden Fortschritt, ja möglicherweise Durchbruch, gesprochen werden.

Unseren Gesellschaften sind einige Glaubenselemente, die noch bis in die jüngere Vergangenheit im Vordergrund standen, offenbar schwer zugänglich geworden. Wie etwa die Idee der Schuldhaftigkeit des Menschen, die der Kirchenlehrer Augustinus im Sinne des iranischen Religionsgründers Mani und angesichts des im Untergang befindlichen römischen Weltreichs in den Vordergrund rückte – als Grund für die damalige Katastrophe – , und der Gedanke der Erlösung hievon.

Nach wie vor verfügen die Ideen rund um das Leiden und die Auferstehung Christi über eine wohl unvergleichliche Eindrücklichkeit. Dennoch scheint vielen heutigen Menschen das tiefere Verständnis hierfür abhandengekommen zu sein: als Folge eines allgemeinen Verlustes an auf die Erbsünde zurückzuführenden Schuldgefühlen.

Doch trotz des offenbar gering gewordenen Verständnisses der heutigen Menschen für die Erlösungstat Christi verfügt das Christentum über eine weitere entscheidende Idee, nämlich die Gotteseigenschaft Christi. Zufolge dieser Idee ist Christus eines – göttlichen – Wesens mit dem Vater. Die Auswirkung auf den Menschen erweist sich weltweit als von einmaliger Qualität. Weil nämlich Christus nicht nur als Gott, sondern gleichzeitig auch als Mensch begriffen wird, ist in seiner Person ein Bindeglied zwischen Gottvater – dem Gott Jawhe der Juden und dem Gott Allah der Muslime – und dem Menschen gegeben. Dieser Umstand – Jesus nannte die Jünger seine Brüder – bedeutet jedenfalls im Vergleich mit dem Judentum und dem Islam eine einzigartige Erhöhung des Menschseins. Entsprechend verfügt die Lehre Christi über eine nirgendwo anders gegebene Aufwertung des Menschseins in die Richtung der göttlichen Ebene – noch weit über die Aussage in Psalm 8 hinaus, die den Menschen als nur wenig geringer als Gott begreift.

So könnte die Gedankenwelt rund um die Geburt Christi als Ausgangspunkt für eine Wertschätzung des Menschseins ebenso fungieren wie für eine erneuerte Positionierung und Fundierung dessen, was die Einzigartigkeit des christlichen Europas bisher ausgemacht hat. Zentraler Ansatzpunkt hierfür ist die nirgendwo anders vorhanden Symbiose zwischen den zwei maßgeblichen Gottesvorstellungen auf der Welt, nämlich der deduktiv-semitischen vom Gottvater einerseits und er induktiv-indoeuropäischen von Christus andererseits. Hierbei bedeutet die Situierung Christi im Gottesrang die bereits erwähnte Erhöhung des Menschseins

Dass der Religionen wegen Kriege geführt wurden – und wie sich im Hindukusch gezeigt hat, derzeit im Gange sind und möglichweise noch bevorstehen – tut der auch von Jürgen Habermas erkannten Notwendigkeit religiöser Inhalte offenbar keinen Abbruch. Gerade das Debakel in Afghanistan hat gezeigt, dass bloße Begriffe wie Verfassungspatriotismus, kommunikative Vernunft oder Diskursethik ohne diese beseelenden, tiefer liegenden Bewusstseinsinhalte nicht ausreichen, um anderen, oft aggressiven gedanklichen, politischen und militärischen Systemen standhalten zu können.

Habermas hatte früher festgehalten, dass „die Autorität des Heiligen sukzessive durch die Autorität eines jeweils für begründet gehaltenen Konsenses ersetzt wird“ (Theorie des kommunikativen Handelns). Ein späteres Buch, nämlich in „Ein Bewusstsein von dem was fehlt“ enthält jedoch eine ganz andere Aussage, nämlich „unter den modernen Gesellschaften wird nur diejenige, die wesentliche Inhalte ihrer religiösen, über das bloß Humane hinausweisenden Überlieferungen in die Bezirke der Profanität hineinbringen kann, auch die Substanz des Humanen erretten können“.

Dass der europäische höchstgerichtliche Judikatur-Kanon nun kritisiert wird, jedenfalls kritisiert werden darf, kann wohl als demokratischer Vorgang bezeichnet werden. Gerade die Ausführungen des Rechtsanwaltes Dr. Tassilo Valentin in seiner Kolumne vom 3. Oktober und eine Woche zuvor zu dem Titel „Der Europäische Gerichtshof muss gestoppt werden!“ zeigen dies auf. Meines Erachtens müssen zweifellos diesbezügliche Rechtsquellen wie der EU-V, die EMRK, weiters auch die Genfer Asylrechtskonvention kritisierbar sein, im Sinne der mittlerweile geänderten geo-politischen  Umstände und der Massenimmigration, in den zuständigen Gremien jedenfalls diskutiert werden. Dies gilt etwa für die derzeitige Vernachlässigung der Rechte des einheimischen Bevölkerungsteiles auf Schutz seiner kulturellen Identität im Sinne etwa des Artikels 19 Staatsgrundgesetz, demzufolge „jeder Volksstamm (des Staates) ein unverletzliches Recht auf Wahrung und Pflege seiner Nationalität und Sprache“ hat, weiters die ungenügende Beachtung der im Art. 2 des ersten ZP zur  EMRK stipulierten Verpflichtung des Staates „ bei der Ausübung der von ihm auf dem Gebiete der Erziehung und des Unterrichtes übernommenen Aufgaben das Recht der Eltern zu achten, die Erziehung und den Unterricht entsprechend ihren eigenen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen sicherzustellen“, sowie im Besonderen hinsichtlich der Ausgestaltung des Asylrechtes. Ich selbst war in Straßburg einige Jahre im Ministerkommitee des ER mit der Ausarbeitung einschlägiger Texte befasst. Von einem Verlassen der EMRK, kann und sollte, wie auch Johannes Pichler beizupflichten ist, keine Rede sein: wohl von deren überfälliger Anpassung.

Nochmals darf ich Deine Aussage so stark unterstützen wie ich nur kann, nämlich, dass ohne glaubhafte Antwort auf die letzten Fragen der Westen verloren ist. Deine Formulierung steht gedanklich im engen Einklang mit der oben zitierten Feststellung von Jürgen Habermas betreffend die Kriterien für das Überleben der modernen Gesellschaften.

 

Mit meinen besten Grüßen

Herzlichst

Heinrich