Nur Spiritualität und Überschaubarkeit sichern die Menschenwürde
Laut der „Geschichte von Morgen“ werden die Fortschritte der Digitalisierung bald einen „Homo Deus“[1] produzieren, der alles besser kann als wir Menschen von heute. Also wieder ein Traum vom neuen Menschen. Neu an ihm ist, wie es den neuen Technologien des 21. Jahrhunderts gelingen soll, den meisten neuen Menschen mit Künstlicher Intelligenz (KI) ihre Individualität zu rauben: Bewusste Intelligenz des Einzelnen wird dann durch unbewusste, aber selbstlernende Algorithmen ersetzt, die Folge wäre eine Masse nutzloser Menschen neben kleinen Eliten optimierter Übermenschen – die letztlich aber ebenfalls überflüssig und eliminiert werden dürften. Diese letzten Schritte mögen sich als Utopie erweisen, doch zeigt sich zwischen dem Silicon Valley und der allmächtigen Parteizentrale Chinas, wie verschiedenen Formen eines staatlich tolerierten, ja gewollten Überwachungs-Kapitalismus bzw. –Kommunismus in diese Richtung weisen. Sein Ziel scheint die Ver-Ameisung des Menschen zu sein, wo durch die Verbindung von Überwachung, Erregungskultur und Konsumismus die Individualität erstickt wird.
Die Errungenschaften der Informationstechnologie (IT) können wie Ackerbau, Buchdruck und Industrialisierung als epochaler Meilenstein der Menschheitsgeschichte gelten. Wir werden damit zu leben haben, sollten aber die bei solchen Umbrüchen unvermeidlichen Kinderkrankheiten überwinden – hier die vielfachen sozialen und kulturellen Verwerfungen, die durch die Digitalisierung hervorgerufen werden. Ähnlich war das ja zuletzt mit der Industriellen Revolution, die zuerst durch die Ausbeuterei des Manchester-Liberalismus gehen musste, bevor sie in der Sozialen Marktwirtschaft durch Verbindung von Produktivität mit Sozialverträglichkeit zum gesellschaftlichen Erfolgsmodell wurde. Weil Kinderkrankheiten auch tödlich enden können, stellt sich somit die Frage, wie die Digitalisierung auch unter langfristigen Kriterien sozialverträglich gestaltet werden kann. Hier sind es vor allem zwei Dinge, die die Kluft zwischen der virtuellen und der realen Welt überbrücken können:
Die Vorstellung von einem Homo Deus schließt den Kreis der Menschheitsentwicklung zurück zum biblischen Paradies: Dort soll vom Biss in die Frucht der Erkenntnis nichts weniger als Allwissenheit und Selbstgerechtigkeit versprochen worden sein. Eva und Adam fielen darauf herein, wurden aus dem Paradies vertrieben, und wir Nachkommen sind seither auf der Suche nach Sinn – ein Drang, der offenbar lebenswichtig ist[2], aber in den der Dimensionen der IT und ihrer virtuellen Scheinwelt nie zu finden sein wird.
Besonders schwerwiegend ist das Bruchstückhafte dieser virtuellen Welt: Weil IT und ihre Algorithmen letztlich nichts anderes können als das „schwarz-weiße“ (binäre) Sortieren riesiger Mengen eindeutiger Daten, entgehen ihr ganzheitliche Zusammenhänge im täglichen Leben,[3] die der Mensch auch aus diffusen, emotionalen und unbewusst verarbeiteten Informationen erkennen kann[4]. Im Erreichen linearer Ziele würde der Homo Deus mit seiner KI zwar sehr effizient sein, doch bliebe ihm das Risiko, in einer Welt höchster Komplexität an unbedachten Nebenwirkungen zu scheitern. Einmal mehr zeigt sich: ohne Effizienz verhungern wir, ohne ganzheitliche Resilienz fahren wir gegen die Wand.
Spiritualität
In jeder Kultur steckt ein so großer, in Jahrhunderte langen Lernprozessen erworbener Schatz an Wissen, Erfahrung und Weisheit, dass seine Zerstörung auch mit größten Anstrengungen nicht in kurzer Zeit wettgemacht werden kann. Es besteht die Gefahr, dass dieser Schatz, der in den Traditionen jeder alten Kultur wie in den Lehren der großen Weltreligionen enthalten ist, von unserer Generation über Bord geworfen wird – so der große Verhaltensforscher Konrad Lorenz[5]. Es liegt auf der Hand, dass diese Gefahr im Zuge der Digitalisierung und sich ausweitender KI enorm gesteigert wird.
Lorenz übergeht bei Betonung von Kultur offenbar sehr bewusst die spirituelle Dimension der Religionen, wie er ja überhaupt im Ruf steht, ein Religions-kritischer Mensch gewesen zu sein. Doch auch nicht wenige Atheisten billigen den Religionen über ihre Beeinflussung der Kultur – intellektuelle Redlichkeit vorausgesetzt – eine gesellschaftliche Leitfunktion zu, wo die Religionen aus ihrem Erfahrungsschatz etwas zu alltäglichen wie besonderen Situationen aussagen. Bei aller Fehleranfälligkeit in Einzelfragen liegen ihre Institutionen bei der langfristigen Beurteilung gesellschaftlicher Fragen meist richtig, was sie auf ihre Deutung der spirituellen Welt zurückführen.
Spiritualität zielt dorthin, wo auch Nicht-Christen den ersten Worten des Johannes-Evangeliums zustimmen können: „Im Anfang war das Wort“. Im Originaltext als „Logos“ bezeichnet, ist „Wort“ hier als das geistige Ur-Prinzip zu verstehen, von dessen formender Kraft alles, wirklich alles, ausgegangen ist und wohl auch weiter ausgeht. Wer „Wort“ in diesem Sinne anerkennt, hat damit in der Perspektive seines Lebens den Fluchtpunkt gefunden, der zwar „jenseits“ aller physischen Horizonte liegt; an dem sich aber alles ausrichten sollte. Diesem Ziel entspricht ja auch die höchste Stufe der schon erwähnten, jedem Menschen innewohnende Sinnsuche,[6] nämlich die endgültiger Sinnfindung durch Aufgehen des Ich in ein immaterielles Größeres. In dieser Sicht ist man bei aller persönlichen Souveränität „Geschöpf“ und sollte zu entsprechender Selbst-Relativierung bereit sein. Aus der durchaus lebenslänglichen Auseinandersetzung mit dem „Wort“ müsste ihm daher so etwas wie ein geschwisterlicher Bezug zu den – ebenfalls „geschöpften“ – Mitmenschen und der Umwelt durchaus einleuchten.[7] Dieser spirituelle Kettenschluss bildet dann schließlich die Grundlage für Religionen, ihre Welterklärungen und Verhaltensvorschriften zu entwickeln.
Wo man diesem Ur-Anfang des „Wortes“ nicht zustimmen kann, schließt das ja eine ethische Lebensführung nicht aus, so wie rein materialistische Ideologien auch ohne diese Spiritualität millionenfachen Zuspruch gefunden haben. Dies umso mehr, als die Geschichte in wohl allen Religionen von schwerem politischen Missbrauch zu berichten weiß. Wo man sich aber umfassende Welterklärungen und zugleich leicht verständliche Antwort auf Sinnfragen sucht, wird man letztlich an Spiritualität und Religionen nicht vorbeikönnen. Echte Spiritualität stimmt daher auch einer von gegenseitigem Respekt getragenen Trennung von staatlichen und religiösen Institutionen voll zu.
Freilich, Spiritualität pur und „nackt“ ist anstrengend. Religion ist so etwas wie ihr Kleid und braucht (im doppelten Wortsinn) angreifbare Institutionen. Bildhaft gesprochen würden Traditionalisten wohl ihre Religion in schweren Brokat-Roben kleiden; minimalistische Asketen hingegen, die sich mit Bikinis begnügen, sollten darüber nicht die Nase rümpfen: Religiöse Riten, selbst wenn sie rational kaum mehr nachvollziehbar sind, wollen wie Meditation den „Weg in Dein Inneres ebnen“, wo Mystik mehr zu sagen hat als Vernunft – und Mystik ist nun mal das Tor zu Spiritualität.
Vieles spricht dafür, dass die spirituelle Welt auch dem durch IT und KI beförderten Erfolgskurs des Materialismus etwas entgegenzusetzen hat, das „Sinn macht“. Zwar scheint auf der Welt Fundamentalismus zu herrschen: sei es seine religiöse Variante, die in allen Hochreligionen zu finden ist; oder sei es in noch viel größerem Ausmaß der Fundamentalismus des Materialismus. Dieser hat in der zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts dominiert, wohl als Reaktion auf Enttäuschungen und Gewalt aus den Ideologien der Klasse und Rasse – nur um letztlich selbst zur Ideologie der Kasse zu werden.[8] Zugegeben, der Materialismus hat durch seine Lieblingsdisziplin des Kapitalismus in der Beseitigung von Hunger und Armut weltweit großen Erfolg gehabt; nun aber schwingt das Pendel offenbar in eine andere Richtung: eine Art allgemeiner kultureller Erschöpfung ist dabei, in einem Kipp-Effekt eine spirituelle Dynamik auszulösen.[9] Die fortschreitende Materialisierung und Ver-Ameisung unseres Lebens durch Konsumismus und konformistische Erregungskultur rufen also eine Gegenbewegung hervor; sie wird von der Sehnsucht getragen, ein lebenswertes Dasein zu leben und zu gestalten, letztlich dem Innenleben mehr Sinn zu geben.[10]
Wie zahllose Beobachter feststellen, findet man diese Bewegung sowohl außerhalb wie innerhalb der traditionellen Hochreligionen, und nicht nur in den drei monotheistischen Konfessionen, sondern auch im Hinduismus und verschiedenen Schulen des Buddhismus. Innerhalb der Religionsgemeinschaften geschieht dies in einem weiteren Spannungsverhältnis zwischen immer fundamentalistischer werdenden Traditionalisten und einer toleranten und individualistischen Richtung (im Islam derzeit wohl noch wenig verbreitet). Besondere Hoffnungen knüpfen sich daran, dass diese toleranten Richtungen zu einer noch vor wenigen Jahren undenkbaren Selbst-Relativierung fähig sind; betonen sie doch mehr und mehr das Gemeinsame mit anderen Religionen und beginnen, aus einem Mehr an Spiritualität den an Äußerlichkeiten fest gemachten Traditionalismus ihrer after all, religiösen Institutionen kritisch zu hinterfragen.[11]
Spiritualität steht über der realen Welt. Beide gehören wie nun auch die Behauptung von der virtuellen Welt zu verschiedenen Dimensionen; es besteht also ein Dreiecksverhältnis der Dimensionen: Die reale Welt muss nun zusätzlich zur Abdeckung ihrer inneren Bedürfnisse ihr Verhältnis zu jeder der beiden anderen Dimensionen berücksichtigen, was letztlich auch Spiritualität und virtuelle Welt miteinander in Beziehung bringt – und sei es auch nur in der klaren Anerkennung ihrer Grenzen.
Überschaubarkeit
Überschaubar ist ein Bereich, von dem man ein allumfassendes Grob-Verständnis haben kann. In der realen Welt stützt sich diese ganzheitliche Fähigkeit auf Erfahrungen – vor allem diejenigen, die man aus dem „Gesichtskreis“ zieht, also aus den ständigen Sinneswahrnehmungen. Für deren unbewusste Verarbeitung und Projektionen ist weiters die soziale Einbindung in den Personenkreis der näheren Umgebung wesentlich. Entsteht doch aus dieser „Dörflichkeit“ ständiger und meist ungeplanter Kontakte, insbesondere der Beobachtung von Beziehungen zwischen Dritten, eine Art Schwarmintelligenz.
Der Überschaubarkeit sind freilich räumliche Grenzen gesetzt, schon weil die Kapazität des menschlichen Gehirns zur Informationsverarbeitung nicht ausreicht, um in der heutigen Welt mit der exponentiell wachsenden Komplexität von Größenwachstum Schritt zu halten. Darin steckt der Kern von small is beautifil, und so sind autonome Regionen auch die politische Bühne der Überschaubarkeit – also relativ kleine Gebietskörperschaften, idealer Weise mit den Kompetenzen und in der Bandbreite Schweizer Kantone (um den Preis geringerer Überschaubarkeit schließt das freilich nicht aus, dass auch deutlich größere Regionen festen Bestand haben.)
Die räumliche Begrenzung der Überschaubarkeit ist gerade zur digitalen Welt das unersetzliche Kontrastprogramm: Zum einen, weil sie hilft, bruchstückhafte Erkenntnis zu verbinden, wie sie jenseits der Überschaubarkeit in der realen und ganz besonders in der digitalen Welt herrscht. Zum anderen, weil sie analog arbeitet; nicht nur, dass sie der Vielfalt im konkreten Leben viel näher ist als das Digitale, kann sie deshalb auch Bildhaftes, Diffuses und Emotionales richtig deuten, während das Digitale nur eindeutige Sprache verarbeiten kann. Unzulängliche Abstraktionen wie unbedachte Nebenwirkungen linearer Prozesse fallen im überschaubaren Rahmen somit schon früh auf; jenseits davon steigt hingegen die Irrtumsanfälligkeit des Menschen exponentiell, verantwortliche Entscheidungen werden zur Glückssache. Kurz, als leicht verständliche Referenz für Ganzheitlichkeit und Menschliches Maß ermöglicht Überschaubarkeit sowohl Rückfallpositionen bei Scheitern der Linearität als auch Orientierungshilfen bei Weiterentwicklung der Effizienz. Sie überbrückt das schon erwähnte Spannungsverhältnis zwischen zwei Prinzipien, denen sich auch die virtuelle Welt nicht entziehen kann: Effizienz und Resilienz.
Die Region für überschaubare Not- und Grundversorgung: Die Coronakrise hat es ja gezeigt: maximale Arbeitsteilung und lange Lieferketten sind wesentlicher Teil hoch-komplexer Wirtschaftssysteme und daher extrem störungsanfällig. Weil die Beschränkung der Erzeugung bzw. Bereitstellung aller notwenigen Dinge auf überschaubare Regionen die meisten Störungen vermeidet, ist es daher sinnvoll, sich so stark wie möglich auf regionale Selbstversorgung zurückzuziehen. Dies sollte zunächst auf elementarem Niveau als Katastrophen-Vorsorge sichergestellt werden, um dann auch eine möglichst umfassende Grundversorgung auf mittlerem Konsum-Niveau anzustreben, die den Großteil des regionalen Bedarfs an Ernährung und Energie aber auch an Allgemeinbildung und zeitgemäßer Information abdecken sollte. Alles, was darüber hinaus geht – und das kann und soll sehr viel sein – würde bei überregionalen, auch globalen Märkten verbleiben. Zur Grundversorgung gehört auch, möglichst viel mit einer der regionalen Reparaturfähigkeit „angepassten Technologie“ zu erzeugen; das würde auch umfangreiche Importe technischer Hardware keineswegs ausschließen, aber Druck auf eine Ressourcen schonende Produktionsweise ausüben. Dieser Regionalität entsprechend sollte in der verfassungsrechtlichen Hierarchie staatlicher Kompetenzen das Subsidiaritätsprinzip zu Gunsten der Selbstverwaltung von Gemeinden und Regionen radikal befolgt werden; also nicht „unten“ machen lassen, was „oben“ nicht mag, sondern „oben“ nur machen, was „unten“ nicht kann.
Was Überschaubarkeit alles kann:
Wenn das Leben in überschaubaren Regionen der Kontrast zu den Verlockungen der Ver-Ameisung und Referenzprogramm zur virtuellen Welt sein soll, so muss die Ganzheitlichkeit des dort vorhandenen Grob-Verständnisses wohl besondere Qualitäten haben. Ein Vorteil versteht sich von selbst im Kontrast zum virtuellen Blick auf die Welt: der haptische Genuss des „Anfassens“ und die größere Beständigkeit in der Region. Darüber hinaus lässt sich auch entdecken:
Befreiung vom Druck des Größenwachstums: Dogma der Globalisierung ist ja der Druck auf Kostenreduktion durch maximale Arbeitsteilung und Größenwachstum. Weil dem in einer autonomen Region enge Grenzen gesetzt sind, wird dort zwar meist teurer produziert, doch werden diese Mehrkosten durch mehr Arbeitsfreude und Produktivität kompensiert, wo der nie enden wollende Wettbewerb um mehr Spezialisierung keinen Platz hat.
Kooperation ist effizienter als Wettbewerb: Wer im Ruf steht, ein großzügiger, ja selbstloser Mensch zu sein, mit dem will man lieber in einer ständigen Geschäftsbeziehung zusammenarbeiten als in punktuellen Beziehungen mit einem kaum bekannten Marktteilnehmern, von denen man nur weiß, dass sie eine bestimmte Leistung relativ preisgünstig erbringen können. Der Ruf einer solchen Großzügigkeit verbreitet sich am besten in regionaler „Dörflichkeit“, und daraus folgt: Kooperation, die über den guten Ruf einer Person erfolgt, vermeidet die Verluste, die alle im Wettbewerb unterliegende Marktteilnehmer erleiden, und ist sie daher nachweislich effizienter[12], selbst wenn einzelne Transaktionen den Marktpreis übersteigen sollten (der Wettbewerb hingegen spielt seine Vorteile dort aus, wo die Individualität aller Marktteilnehmer in der Größe des Marktes untergeht).
Toleranz und Demokratie gedeihen besser: Jenseits der Überschaubarkeit kann man Gegner die längste Zeit straflos ignorieren, in der digitalen Welt der sozialen Medien ist man überhaupt ganz „unter sich“, weil man Andersdenkende ganz einfach „weg-klicken“ kann. Das erklärt viel von der Überbetonung der eigenen Befindlichkeit, der sich allgemein verbreitenden Diskurs-Verweigerung und ihren Radikalisierungen. Das führt zu Polarisierungen, Blockbildungen und Populismen, die der parlamentarischen Demokratie jede Bürgernähe nehmen und sie damit die Demokratie langsam, aber gründlich ruinieren[13]. Anders jedoch in überschaubaren Regionen, wo man Gegner nicht ohne weiteres loswird; man sich deshalb vielmehr zu Toleranz und zu politischen Kompromissen gedrängt sieht. Die Bestätigung dieser Erfahrung findet man im Vergleich zwischen National- und Regionalwahlen: Regional-Regierungen werden deutlich weniger oft abgewählt, schon weil die Haltlosigkeit populistischer Wahlversprechen dank Überschaubarkeit schon sehr früh erkannt werden.
Moral setzt sich besser durch: Je mehr Komplexität in unserer Zivilisation, desto mehr Hürden zwischen dem inneren Wollen der Gesinnungsethik und dem äußeren Handeln der Verantwortungsethik sind zu überwinden. Im Ergebnis handelt der Moralist dann meist schädlich oder gar nicht. In der überschaubaren Region stellt sich dieses Dilemma viel weniger.
Was zu tun ist
„Let us bomb them back to stone-age“ meinten einige US-Generäle im Vietnam-Krieg. Solange wir diese Art von Steinzeit vermeiden wollen, werden wir die virtuelle Welt daran hindern müssen, wie alle “großen Ideen” in Exzess zu geraten und damit letztlich unermesslichen Schaden anzurichten – mehr noch, als sich US-Generäle des Vietnam-Krieges vorstellen konnten. Denn große Ideen finden nur Mäßigung in der Auseinandersetzung mit anderen Ideen und Prinzipien, wie es die hier wohl entscheidend wichtigen Prinzipien der Spiritualität und Überschaubarkeit sind. [14] Diese Herausforderung verlangt rasches Handeln und sollte gemeistert werden, so lange die Grenzen des autonomen Cyberspace und seiner IT noch von der realen Welt gesetzt werden können.
Entscheidend dafür ist kulturelle Vielfalt und die Stärkung der für KI unzugänglichen Bereiche. Ästhetik und vor allem Kunst sind hier wichtig, nicht zuletzt auch wegen ihres bewährten Zugangs zu Spiritualität. Sprachlich gesehen sollten Dinge wie Lyrik und Poesie, ganz besonders auch Witz und Ironie genutzt werden: sind das doch Ausdrucksformen, die formal durch ihre Mehrdeutigkeit jeder KI widersprechen und ihren klaren Sinn erst aus dem Kontext erfahren[15]. Kurz: Schönheit ist rational – und damit auch digital – nicht zu beschreiben, aber Hässlichkeit und Humorlosigkeit kann die Menschheit noch auf das Totenbett bringen.
Im Übrigen: wenn die Begrenzung der KI nicht auf konstruktive Art gelingt, so wird es eben das Destruktive schaffen. Schon jetzt wächst Cybercrime exponentiell, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis organisierte Kriminalität über modernstes militärisches Material verfügt: neben selbstlernenden Drohnen, die böse Terroristen finden und töten, werden solche Mord-Roboter bald auch im „privaten“ Erpressungsgeschäft Verwendung finden. Sowohl kapitalistische als auch kommunistische Eliten des Cyberspace werden dann mit ihren Familien kaum Ruhe finden, und man wird Rettung im Sprichwort suchen, dass Spatzen ziemlich sicher vor Kanonen leben können, denn small is safe. Schon Erich Kästner hat diesen Vorteil überschaubarer Einheiten gekannt und so ausgedrückt, dass es KI nicht verstehen kann:
Wer wagt es, sich donnernden Zügen entgegenzustellen?
Die kleinen Blumen zwischen den Eisenbahnschwellen.
[1] Yuval Noah Harari, „Homo Deus – eine Geschichte von Morgen“, deutsch 2020 C.H. Beck
[2] Viktor E. Frankl, „Der Wille zum Sinn“, Bern 1972
[3] Vgl. Hoimar v. Ditfurth, „Der Geist fiel nicht vom Himmel – die Evolution unseres Bewusstseins“; Hamburg 1976; sowie Michael Breisky, „Menschliches Maß gegen Gier und Hass – small-is-beautiful im 21. Jahrhundert, Wien 2018
[4] Richard David Precht in „Künstliche Intelligenz und der Sinn des Lebens“, München 2020, Goldmann
[5] Konrad Lorenz, „Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit“, München 1973
[6] Viktor E. Frankl, „Der Wille zum Sinn“, Bern 1972
[7] Michael Breisky, „Der Kompass im Kopf“, Salzburg 2004
[8] Vergl. Leopld Kohrs Zitat:“Alle große Ideen sind Gift – entscheidend ist, wie in der Medizin, die Dosis“
[9] Vergl. Michel Houellebecq: Ein bisschen schlechter. Neue Interventionen, Köln 2020.
[10] Wolf Maritsch, „Leadership spirituell“ Aichbergiana Heft Nr. XVIII
[11] Mehr dazu im Kapitel „Endlich gelungenes Leben“ in Michael Breisky „Menschliches Maß gegen Gier und Hass – small is beautiful im 21. Jahrhundert“, Wien 2018, Verlag Frank & Frei
[12] Martin A. Nowak, in: Kooperative Intelligenz das Erfolgsgeheimnis der Intelligenz, München 2013, original: Super Cooperators, Altruism, Evolution and why we need each other to succeed, New York 2011
[13] Anmerkung: Die Erstürmung des Kapitols in Washington am 6.1.2021 belegt einerseits den Niedergang demokratischer Gesinnung und die innere Spaltung der USA der letzten Jahre, andererseits auch die Macht des Überwachungs-Kapitalismus: nicht nur werden alle Teilnehmer an dem Gewaltakt durch Gesichtserkennung ausgeforscht und wohl auch hart bestraft; sondern zeigt die anschließende – und formal privatrechtliche – Sperrung von Präsident Trumps Tweet und seiner Facebook-Konti die behördenfreie Unterdrückung der Meinungsfreiheit im digitalisierten Ameisenstaat. Kein Wunder, dass die Studie „Global Trends 2040“ des US-amerikanischen National Intelligence Council vor einem „technologiegetriebenen autoritären Kapitalismus“ warnt, als der sich – auch in Europa – in naher Zukunft abzeichnenden Gesellschaftsform.
[14] Michael Breisky, in Menschliches Maß gegen Gier und Hass, a.a.O.,Wien 2018
[15] Vergl. Thomas Bauer, Die Vereindeutigung der Welt – über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, Ditzingen 2018