Nach Corona:  die Bändigung der Extreme durch das Menschliches Maß

 

 

von Michael Breisky

 

„Gott soll uns schützen vor allem, was noch a Glück sein  wird“, könnte man wie die seligen Tante Jolesch seufzen, die weise Matriarchin im alten jüdischen Wien. Es wäre das die Aussicht auf das, was uns die Coronakrise einbrockt: eine extrem schmerzhafte, aber letzten Endes wohl schöpferische Zerstörung.  Sie trifft ein System, das anfangs sehr erfolgreich war, nun aber dabei ist, mit vielfachen Exzessen die Zukunft unserer Nachkommen zu zerstören. Kein Zweifel,  ob das spätere Glück größer sein wird als die Schmerzen der Nach-Corona-Zeit, ist ungewiss, aber es gibt kein Zurück – was noch zu Jahresende 2019 Gewissheiten unserer Gesellschaft war, ist so vorbei wie Stephan Zweigs „Welt von gestern“.

Was sind nun Orientierungspunkte für das Zustandekommen des Neuen? Die Krise hat schon seit längerem sowohl offenkundige, aber politisch verdrängte Systemmängel zum Eklat gebracht, als auch gleichzeitig unreflektierte Selbstverständlichkeiten ernsthaft in Frage gestellt – vor allem den Allmachtsglauben der Menschen, der sich auf den  Besitz von Geld und linearer Vernunft stützt und unsere Gesellschaft mehr und mehr polarisiert. Eine Wende könnte sich abzeichnen, da seit Beginn der Krise Konsens und Solidarität, Immaterielles und Psycho-Soziales zumindest im Kleinen ungeahnten Aufschwung genommen haben – ob dieser Trend sich durchsetzen wird, ist freilich fraglich.  Als sicher mag gelten, dass stabile Verhältnisse nur nach einer längeren Phase größter Unruhe eintreten. Mut und Pragmatismus, vor allem Innovation in Inhalt und Form der Kooperation, werden sich gegen Restaurationsversuche der bisherigen Geld- und Machthaber zu behaupten haben. Dabei werden sich allmählich Leitprinzipien herauskristallisieren, und auf diese soll hier eingegangen werden.

 

Idee und Gegen-Idee

Das 20. Jahrhundert stand bis in sein letztes Drittel im Zeichen der Ideologien: Meine Weltsicht, meine Ideen – etwa Rasse, Klasse oder Kasse – sind die einzig richtigen, entweder Du folgst ihnen oder Du bist mein Feind. Das Wendejahr 1989 entschied dieses oft blutige Entweder-Oder mit dem weltweiten Sieg  von Demokratie und Kapitalismus. Erstere fand sich bald durch Letzteren bedrängt, und tatsächlich scheint am Ende der Vor-Corona-Zeit der Kapitalismus über geo-politische Gegensätzlichkeiten hinaus das unumschränktes Leitprinzip der Welt geworden zu sein.

Der Kapitalismus beansprucht unbegrenzte Geltungskraft, kennt also keine Selbstbegrenzung und ist daher im Exzess gelandet.  Gleiches gilt für die ihm vorgelagerten Ideen des Vernunftglaubens und des Individualismus.  Wie schon der Wiederentdecker des Menschlichen Maßes Leopold Kohr dazu festgestellt hat, gilt das Paracelsus-Wort „alles ist Gift, entscheidend ist die Dosis“ eben auch für alle große Ideen und Erfolgsprinzipien.

Kapitalismus mit seinen Subsystemen und andere ins Unmaß geratene Ideen sind also nicht grundsätzlich falsch, die Frage ist aber, ob und wie sie auf ein erträgliches Maß zurückgeführt werden können. Naheliegend ist,  Exzesse mit direkten Eingriffen zu beseitigen. Das ist ein schwieriges Unterfangen, das oft genug entsetzliche Nebenwirkungen mit sich bringt. Einen viel besseren Ansatz für dieses Problem war für Kohr ein Satz des Aristoteles: „Tapferkeit ohne Vorsicht ist tollkühn, so wie Vorsicht ohne Tapferkeit feige ist“. So muss sich jedes Erfolgsprinzip und jede große Idee an einem komplementären Gegenstück messen lassen, steht also in einer Wechselbeziehung – so wie Vertrauen und Kontrolle, Freiheit und Sicherheit, Quantität und Qualität, Wachstum und Erneuerung, digital und analog, lokal und global, privat und öffentlich. Spricht man nun diese Wechselbeziehung positiv an und fördert energisch die vernachlässigte Gegenidee, so wird das Ungleichgewicht zwischen den beiden Ideen deutlich, die unmäßige Idee gerät in die Defensive und die Vorteile  eines konstruktiven Verhältnisses zwischen den beiden Ideen findet meist breite Zustimmung.

Die Erschütterung so gut wie aller für die Vor-Corona-Zeit maßgeblichen Ideen schreit also nach Stärkung der jeweiligen Gegenidee; das  noch junge 21. Jahrhundert kann damit zur Epoche des Menschlichen Maßes werden. Wenn etwa arbeitsteilige Produktion und just-in-time  im Interesse der Gewinnmaximierung  zu den  langen Lieferketten extremer Arbeitsteilung geführt haben, so war das der Idee der Effizienz geschuldet;  wie nun das Drama um nicht erhältliche Schutzmasken zeigt, hat  jedoch der Zusammenbruch dieser Ketten in der Coronakrise die Bedeutung resilienter Strukturen als Gegenidee aufgezeigt. An Stelle ideologischer Entweder-Oder-Dispute zwischen Idee und Gegenidee soll nun das richtige Maß zwischen den beiden an den Erfordernissen konkreter Situationen gemessen werden. Um es hier auf den Punkt zu bringen: ohne Effizienz verhungern wir, und ohne Resilienz fahren wir gegen die Wand. Es lebe der Pragmatismus des rechten Maßes!

Effizienz will den angestrebten Erfolg mit möglichst geringen eigenen Kosten erreichen und wird allgemein als ein lineares Prinzip verstanden. Resilienz ist Widerstandkraft gegenüber allen bekannten wie unbekannten Risken und ist durch seine Ganzheitlichkeit ein nicht-lineares Prinzip. Es ist nun auffallend, dass Ideen, die heute mit ihren Exzessen unseren Nachkommen die Zukunft verbauen, auffallend häufig linearer Natur sind, die Gegenideen hingegen nicht-linear. Der Grund dafür könnte darin liegen, dass nicht-lineare Ideen und Systeme nur sehr eingeschränkt kalkulierbar sind und daher dem falschen Allmachtsdenken des absoluten – und linearen – Vernunftglaubens widersprechen. Das gilt auch für Prinzipien, die Teil von den komplexen und nicht eindeutig zuzuordnenden Systemen des Kapitalismus und der Demokratie sind. So sind in kapitalistischen Gesellschaften heute lineare Ideen wie Privateigentum samt Gewinnstreben gegenüber der sozialen Verantwortung von privatem wie öffentlichen Gut als nicht-lineares Gegenstück eindeutig im Exzess. Gleiches gilt im Bereich der Demokratie für Zentralismus und die daraus geforderte Einheitlichkeit gegenüber Föderalismus und Vielfalt (dazu kurz und bündig: Einheitlichkeit ist heute Opium für Einfältige). Auf dieser Linie findet dann auch der wachsende Rechts-Populismus seine Erklärung: die heute als Über-Tugend gepredigte Toleranz als lineare Idee will heute über der eindeutig nicht-linearen Identität stehen.

 

Lineare Vernunft und analoge Intelligenz  

Daher ein Wort zu linear und nicht-linear als den Arbeitsmethoden unseres Verstandes: linear zu arbeiten, also in einer Reihe auf einander bezogener Schritte, ist das Kennzeichen der Vernunft. Diese wird von der analogen Intelligenz abgesichert, die das Produkt analoger Informationen aus vielfältigen Quellen ist, insbesondere der laufend hereinkommenden Sinneswahrnehmungen, der Überlieferung und der im „dörflichen Diskurs“ zutage tretenden Schwarm-Intelligenz des sozialen Umfelds.  Im Ergebnis befähigt uns analoge Intelligenz, alle ihre bewusst und unbewusst aufgenommenen Informationen derart griffbereit zu halten, dass sie vernünftigem Handeln einen sicheren Rahmen geben. Ihre aus Bauch oder Herz kommenden Botschaften mögen weniger klar sein als die Hirnprodukte der Vernunft, sie kann jedoch weitaus mehr Signale aus der Außenwelt verarbeiten. Unsere Evolution zum Homo sapiens – laut George Bernard Shaw haben wir es allerdings bisher nur bis zum missing link zwischen diesem und dem Affen geschafft – war nur möglich, weil uns diese Art von Intelligenz davor bewahrt hat, den Höhenflug der Vernunft vor dem Absturz wegen unbedachter Nebenwirkungen zu bewahren. Es ist das also  wie Resilienz also ein ganzheitlich operierendes Sicherungssystem.

Der Haken daran ist, dass die soziale Intelligenz zwar über eine Kapazität der Informationsauflösung verfügt, die der von Sprache und Vernunft millionenfach überlegen ist; voll wirksam ist sie aber nur im bildhaft bzw. sozial voll überschaubaren Raum. Damit wird Überschaubarkeit zu einem wesentlichen Faktor menschlicher Erkenntnisfähigkeit: Ja, Vernunft kann auch jenseits der Überschaubarkeit mit Ideen, Erfolgsprinzipien und ähnlichen Abstraktionen logisch richtig und effizient operieren; dem Risiko des Scheiterns am „Unbedachten“ kann sie jedoch nicht ausweichen.

Technischer Forschritt hat zweifellos die Grenzen ganzheitlicher Überschaubarkeit über das „Dörfliche“ hinaus erweitert. Schon seit längerem ist es möglich, innerhalb bestimmter Personenkreise über Landesgrenzen und Meere hinweg derart intensiv zu kommunizieren, dass  zu bestimmten Themen ein umfassendes Wissen entsteht. Für analoge Ganzheitlichkeit fehlen dabei zwar die Querverweise zu möglicherweise relevanten anderen Themen, doch wird man immerhin von einem “quasi-holistischen“ Erkenntnisstand sprechen können.  Video-Konferenzen  haben dieses Manko zwar nicht ganz beseitigt, aber doch erheblich reduziert, und deshalb bedeutet die Zunahme solcher Konferenzen um das Zwanzigfache(!) innerhalb weniger Tage des Corona-Lockdown einen Quantensprung für vieles, was an Überschaubarkeit geknüpft ist. Gelegentliche physische Begegnungen bleiben aber nach wie vor unersetzbar.

Denn echte Überschaubarkeit hilft auch Kooperation: Weil man sich lieber an Menschen wendet, die nicht ständig auf den eigenen Vorteil schauen, und weil man diese Menschen eher in einem überschaubaren Umfeld findet;  ist Kooperation im überschaubaren Umfeld regelmäßig effizienter als Wettbewerb, bei dem es ja immer Verlierer gibt – jenseits der Überschaubarkeit werden diese persönlichen Kenntnisse immer spärlicher, und erst dann wird der Wettbewerb zur effizienteren Bühne der Koordination.

Von Kooperation ist es nicht weit zu Solidarität, und auch hier besteht ein starker Konnex zu Überschaubarkeit: Nachhaltig kann Solidarität, wo sie sich auf die vom Herzen kommende Gesinnungs-Ethik stützt, nur in ganzheitlicher Überschaubarkeit gedeihen, weil hier auch mehr Klarheit darüber besteht, was gegen die Solidaritätsleistung spricht.  Jenseits der Überschaubarkeit verkümmert der emotionale Anreiz zu Solidarität sehr rasch, sie kann sich dann nur auf das fragile Gerüst vernünftiger Verantwortungs-Ethik stützen.

 

Überschaubarkeit oder Ver-Ameisung durch Dataismus?

Schon nach wenigen Wochen erweisen sich Resilienz-Prinzip und Regionalismus als die Gewinner der Coronakrise. Das läuft letztlich auf die entschiedene Durchsetzung des Subsidiaritätsprinzips hinaus: Dank größerer Überschaubarkeit soll „Unten“  in der Hierarchie nicht nur das machen, wozu das  „Oben“ keine Lust hat; sondern es soll „Oben“ nur das machen, was „Unten“ nicht kann.

Daher muss unsere umfassende Grundversorgung – vor allem das Notwendigste an Ernährung und Energie –  innerhalb überschaubarer Regionen erfolgen, und zwar möglichst kooperativ und nicht zu Niedrigstpreisen. Das Viele, das darüber hinaus geht – wozu wohl auch die Hardwarefür die Grundversorgung gehört – kann man dem fairen Wettbewerb überregionaler Marktwirtschaft überlassen; und je nach Resilienz-Erfordernissen soll diese national, kontinental oder auch global organisiert sein. Es liegt im übrigen ganz in der Natur der Sache, dass diese Aufgabenteilung den Erfordernissen des Klimawandels, aber auch der Beschäftigungspolitik am besten entspricht.

Die politischen Strukturen werden diese  Aufgabenteilung Im Idealfall übernehmen. Man sollte dabei an die Verfassung Liechtensteins denken, die jeder Gemeinde das volle Selbstbestimmungsecht gewährt; zweifelt doch niemand, dass diese Bestimmung kaum eine Sache der Politik und vielmehr ein psychologischer Treiber des Subsidiaritätsprinzips ist.  In Europa werden vor allem die großen Nationalstaaten gefragt werden, ob sie sich mittlerweile schwach genug fühlen, um viele ihrer Kompetenzen nicht nur an ihre Regionen sondern auch an Europa abzugeben. Die wirtschaftlich erstarkenden Regionen werden sich via factimit der Zeit ohnehin politisch holen was sie brauchen. Die Europa-Frage bleibt in heutiger Sicht jedoch leider offen, so lange nicht die EU und ihre Mitgliedsstaaten eine Inventur und pragmatische Neuverteilung ihrer Kompetenzen vornehmen; Prüfstein dabei wird die Frage sein, in welchen Materien man sich im Namen europäischer Solidarität notfalls überstimmen lässt. Im Ergebnis kann ein einiges Europa der Welt mit seiner kulturellen Vielfalt ein starker Leuchtturm sein, während ein völliges Scheitern eine globale Katastrophe wäre: Alte und neue Supermächte würden mehr als schon bisher versuchen, möglichst viele europäische Staaten zu ihren unmündigen Vasallen zu machen; in der Folge werden sie ihre Stellvertreterkriege hierher verlegen.

Ein großer Joker in dieser Frage ist das gute Geld: Angesichts der ungeheuren Kosten für Wiederaufbau der Nach-Corona-Wüste ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass exzessive Schöpfung von Fiat-Geld das Vertrauen der Menschen in die Werthaltigkeit des Geldes eher plötzlich einstürzen lässt – ist doch die Abschaffung privater Alterssicherung durch die Verkehrung von Sparzinsen in Negativzinsen unvergessen. Rechtzeitig über fiskalische und währungspolitische Alternativen nachzudenken ist daher mehr als  sinnvoll – sei es über Goldstandard und Weiterentwicklungen von Bitcoin, neue Clearing-Systeme und selbst die verschiedenen Formen von Frei- und Schwundgeld.

 

Mit dem Dataismus  stellt sich schließlich die Frage zukünftiger Menschen-Qualität: Schon bisher haben die Informations-Kraken in Peking und im Silicon Valley die zentral gesteuerte Digitalisierung voran getrieben: Während die Massen mit Konsumismus, Sexismus und polarisierenden Schein-Diskussionen ruhig gestellt wurden, konnte eine kleine Elite ihre Kontrollmöglichkeiten laufend verfeinern. Die Pandemiebekämpfung hat nun den Mandarinen des deep stateeinen bis vor kurzem unvorstellbaren Eingriff in Persönlichkeitsrechte verschafft, mit dem – auch ohne besondere Bösartigkeit – die Restbestände individueller Freiheit leicht verloren gingen; das würde in Verbindung mit dem Dataismus und Künstlicher Intelligenz auf das Ende menschlicher Individualität hinauslaufen, also auf die Ver-Ameisung  unserer Spezies. Zur Schicksalsfrage wird daher, ob der mit der Coronakrise eingesetzte und geradezu spektakulär erfolgreiche Schub an dezentraler Digitalisierung stark genug ist, diese Gefahr mit kleinen und höchst persönlichen Netzwerken abzuwenden; auch so lässt sich Europa bauen! Sich als Realisten ausgebende Pessimisten halten diese Bändigung des Dataismus „natürlich“ für Wunschdenken. Christen, die noch das glauben, was sie im „Vater unser“ beten, haben hingegen spirituelle Gründe, um auf echten menschlichen Fortschritt zu hoffen.

 

Corona auf den Punkt gebracht: Die Menschheit hat nun die Chance, mit Hilfe von Maß und Überschaubarkeit aus  dem alten Entweder–Oder ein Entweder–Und  zu machen: das Entweder ist Respekt vor den Gegensätzlichkeiten, das Und die Sicht auf das Verbindende. Nützen wir diese Chance, um endlich mehr als nur das missing linkzum Homo sapiens zu sein!