Religiöse Toleranz wird in Europa immer wichtiger

 

Dies ist der geringfügig überarbeitete Abdruck des Vortrages  „Kein Frieden ohne Toleranz, keine Toleranz ohne Neugier“ von Michael Breisky beim Symposion „Kultur des Friedens“ September 2000 in St. Johann i.P, 

 

Man kann in Europa nicht über Kultur und Zukunft sprechen, ohne die Religionen zu berücksichtigen – ein Thema, das es in den ersten Jahrzehnten der EU beim Ausbau ihrer Institutionen bestenfalls in die Fußnoten geschafft hat. Denn den Grundsätzen der Aufklärung folgend hat die Rechtsordnung der EU und ihrer Mitgliedsstaaten die längst fällig gewesene Trennung von Kirche und Staat inzwischen so radikal durchgezogen, dass daraus eine chaotische  „Beliebigkeit der Werte“ entstanden ist. Das ist aber – wie schon ausgeführt – mit dem Wesen des kulturellen Gemeinsinns unvereinbar und entzieht damit letztlich auch dem Recht den Boden. Hier sind zwei Aspekte zu beachten:

Zum einen ist die zukünftige Rolle des Christentums als eine der wichtigsten Kräfte in der Entstehung des Europa-Gedankens nicht nur an der aktuellen Schwäche der katholischen und protestantischen Kirchen zu messen – erstere würgt ähnlich wie beim Ablasshandel vor 500 Jahren am Missbrauchsskandal, letztere wohl hauptsächlich an ihren chronischen Defiziten in den mystischen Dimensionen der Religion. Andererseits ist gerade die Betonung der Mystik der Grund für die zunehmende Attraktivität sowohl der orthodoxen Kirchen als auch der evangelikalen Freikirchen. Diese erfreuen sich des großen Zuspruchs genau derjenigen Kreise, die schon Jesus Christus besonders am Herzen lagen – die Ausgestoßenen und gesellschaftlichen Verlierer[6]. In Zeiten immer dringender werdender Sinnkrisen und wie jüngste Entwicklungen in den USA zeigen, wird auch europäische Politik nicht umhin können, die religiösen Bedürfnisse dieser Kreise stärker zu berücksichtigen.

Zum anderen ist die Rolle der hier seit einigen Jahrzehnten lebenden Muslime zu bedenken.  Dies umso mehr, als das demographische Defizit Europas weiterhin vorwiegend durch moslemische Zuwanderer aus ganz anderen Kulturkreisen ausgeglichen wird. Das Verhältnis aller hier lebenden Muslime zur eingesessenen Stammbevölkerung, die – bewusst oder unbewusst – weitgehend vom judeo-christlichen Erbe geprägt ist, wird sohin davon abhängen, wie sehr von beiden Seiten tatsächlich religiöse Toleranz geübt wird. Das wird der europäische Rechtsstaat nicht ganz dem Gemeinsinn überlassen können, denn Toleranz ist ein ebenso kostbares wie heikles Gut – schon weil es sehr viel intellektueller Energie bzw. Neugier bedarf, die heute mit  Werbung und Spaßgesellschaft verschwendet wird[7].

Staat, Recht und Religion

Die Begründung für dieses staatliche Eingreifen sei hier kurz erläutert: Staatlich gefördert werden muss die Fähigkeit seiner Bürger, in einem alle Lebensbereiche umfassenden gedanklichen System so viel Orientierungssicherheit zu gewinnen, dass unter der Fülle möglicher Verhaltensmuster kein Chaos der Beliebigkeiten entsteht – widrigenfalls uns die intellektuelle Energie bald ausginge, und wir dann unter die Räder von Aggression oder Flucht gerieten, weil dann die biologischen Urfunktionen ungezähmt durchschlagen. Die Notwendigkeit zur Abwehr dieser Gefahr ergibt sich schließlich auch aus der Erfahrung, dass der Untergang von allem Wertvollen viel leichter und rascher erfolgt als sein Aufbau. Nachhaltige Politik wird also nicht umhinkönnen, unter der Vielzahl von Weltanschauungs-Modellen eine gewisse inhaltliche Präferenz auszudrücken, aber sie darf dies im Interesse des europäischen Pluralismus nicht mit rechtlichem Zwang verbinden; es muss bei Orientierungshilfen bleiben. Dem würden Religionsunterricht an staatlichen Schulen für alle weit verbreiteten Glaubensgemeinschaften entsprechen sowie öffentliche, aber unverbindliche Hinweise auf die örtlich dominierende Religion. Religion schon deshalb, weil jede (Hoch-) Religion ein einheitliches Gedankengebäude darstellt, das zu fast allen Lebensbereichen etwas Konkretes zu sagen hat; und weil die örtlich meistverbreiteten Religionen die erforderliche öffentliche Sichtbarkeit genießen.  Für diesen örtlichen Vorrang spricht nicht zuletzt, dass sich eine Religion immer nur dort nachhaltig durchsetzen konnte, wo sie insgesamt in der ganzen Bandbreite ihrer offiziellen und inoffiziellen Lehrmeinungen die besten Erfahrungsmuster für die Menschen dieser Region entwickelt hat. Der einzelne Mensch wird diesen Mustern oft nicht in allem folgen können, aber ihm wird das Wissen um die „Himmelsrichtung“ auch dort wichtig sein, wo er Klippen und Stolpersteinen pragmatisch ausweichen will. In diesem Sinn sind gerade reine Äußerlichkeiten wie Feiertagsordnungen und Glockengeläute wertvoll, da sie auf die dahinter liegenden geistigen Orientierungshilfen verweisen.

Aber wie steht es dann mit dem Pluralismus? Da sollte zunächst klar sein, dass ein Niedergang der Mehrheits-Religion auch den Angehörigen von Minderheiten-Religionen schadet, da diese – wie viele Beispiele zeigen – meist mit nur kurzer Verzögerung ein Ähnliches erfahren. Wie selbst die meisten Agnostiker zugeben, ist jede Art von öffentlich geförderter Sichtbarkeit von Religiosität daher besser als ein religiöses Vakuum.

 

Ein neues Verständnis religiöser Toleranz

Nun ist öffentliche Hilfe für die Sichtbarkeit einer bestimmten Religion ein Privileg, doch wäre dies vertretbar, wenn man die Sonderstellung einer Religion nicht mit ihrem Anspruch auf höchste Wahrheit begründet, sondern ausschließlich mit ihrer offenbar besonders gegebenen Eignung für die Bedürfnisse einer bestimmten Gebietsbevölkerung. Dann können dort lebende Angehörige von religiösen Minderheiten darauf vertrauen, dass sie andernorts, wo sie selbst die dominierende Religionsgemeinschaft bilden, eine gleichartige Position genießen. Außerhalb des örtlichen Kontextes mit seinen besonderen kulturellen Erfahrungen wären nun alle Religionen gleichwertig, und aus dieser gegenseitigen Wertschätzung müsste folgen, dass Missionierung bzw. Proselytisierung nur mehr durch das Beispiel des gelebten Vorbilds erfolgen darf.

Um hier den Kreis zu den Muslimen Europas zu schließen: Die Prinzipien der erhöhten Sichtbarkeit einer Religion und des Pluralismus wären vereinbar, wenn man an die im Christentum unbekannte Unterscheidung des Islams zwischen Gebieten des Islams, Gebieten des vertraglichen Friedens und Gebieten des Krieges anknüpft. Denn in Europa als „Gebiet des vertraglichen Friedens“ (Dar al ahd) hat der Islam den dort dominierenden Buch-Religionen bislang genau die überragende Stellung in der Öffentlichkeit zugebilligt, die er selbst in seinen eigenen Gebieten für sich in Anspruch nimmt. Und er tat dies zumindest in der Vergangenheit bei sich zuhause – obwohl nicht immer und nicht überall – in einer grundsätzlich toleranten Weise, wie die stille Blüte christlicher und jüdischer Gemeinden unter islamischer Herrschaft durch viele Jahrhunderte hindurch bewiesen hat.

Es wären also am zweckmäßigsten, seitens der EU „Toleranz-Verträge“ mit Staaten anderer Kulturkreise abzuschließen; wie solche Verträge aussehen könnten, wird im Anhang skizziert. Da solche Verträge mit den Errungenschaften der Religionsfreiheit und der Trennung von Kirche und Staat durchaus vereinbar wären, ist daher die EU berufen, hier für ihre Mitgliedsstaaten tätig zu werden und in Verhandlungen mit Drittstaaten ihr Interesse an der wechselseitigen Sicherung ihres religiös-kulturellen Status quo sowie den Grundsätzen eines „Vertraglichen Religions-Friedens“ zu konkretisieren.

Ob es tatsächlich zu Vertragsabschlüssen kommt, ist eine politische Frage. Wo mit solchen Angeboten bei Regierungen außerhalb der EU angefragt wird, sind die jeweiligen  Antworten darauf der beste Gradmesser für die dort gegebenen Toleranz-Bereitschaft. Mit anderen Worten: wer für sein Gebiet Toleranz-Verträge ablehnt, muss damit rechnen, sich  nicht auf Toleranz gegenüber seinen  Angehörigen berufen zu können, die sich außerhalb seines Gebietes aufhalten.

 

 

ANHANG: ELEMENTE FÜR „TOLERANZVERTRAG

  1. DEFINITIONdes Begriffes des „Vertraglichen Friedens“.
  2. VERWENDUNGSZUSAGE, die im eigenen Gebiet traditionell verankerten Religionsgemeinschaften ermutigen zu wollen,
    – das Gebiet der anderen Partei als „Gebiet des vertraglichen Friedens“ anzuerkennen,
    – dort alle örtlich gewachsenen Formen der Religions-Ausübung zu achten und
    – von jeder aktiven Werbung zum Glaubensübertritt Abstand zu nehmen.
  3. FESTSCHREIBUNG des multikulturellen Status quo („Berlin-Kreuzberg kann bleiben, es sollen aber keine neuen Kreuzbergs entstehen“.)
  4. VEREINBARUNG, den eigenen Staatsbürgern keine politische Unterstützung zu gewähren, wenn sie diese Prinzipien im anderen Staat verletzen (d.h. im Falle „religiöser bzw. kultureller Querulanz“).
  5. ÜBEREINSTIMMUNG, dass die kulturellen Traditionen der Staaten von den auf ihrem Gebiet seit längerem verbreiteten Religionsgemeinschaften stark geprägt sind, diese Traditionen weiterhin eine ethische Orientierungshilfe darstellen, die für Friede und Wohlergehen der Staaten unverzichtbar sind; und es daher- im wechselseitigen Interesse liegt, wenn im bilateralen Verhältnis offene Fragen
    – zur völkerrechtlich verankerten Religions- und Meinungsfreiheit,
    – zur öffentlichen Ordnung im Allgemeinen sowie
    – zur öffentlichen Religionsausübung im Besonderen in einer Weise gehandhabt werden, die diesen kulturellen Traditionen gerecht wird.
  6. VEREINBARUNG DER ZUSAMMENARBEITvon Forschungs- und Bildungsinstitutionen beider Seiten zu einem kulturellen „Brückenbau“, insbesondere durch Herausarbeitung und Propagierung von Gemeinsamkeiten und Entsprechungen in Religion und Kultur.
  7. KLAUSEL FÜR EINE REVISIONnach ca..10 Jahren