Prof. David Engels: Die innere Dynamik der politischen Einigung Europas seit Karl dem Großen

Die innere Dynamik der politischen Einigung Europas seit Karl dem Großen

 

Mit Genehmigung des Herausgebers:

Auszug aus „Renovatio Europae; Plaidoyer für einen hesperialistischen Neubau Europas“,

Herausgeber David Engels, 2019, Edition Sonderwege bei Manuscriptum:

 

LOKALISMUS, REGIONALISMUS, NATIONALISMUS – HESPERIALISMUS?

DER WEG ZU EINER NEUEN EUROPÄISCHEN VERFASSUNG –

EINE POLITISCHE UTOPIE

von David Engels

 

  1. 1. Einleitung

Es ist alles andere als einfach, in der hier gebotenen Kürze auch nur die Umrisse jener institutionellen Strukturen nachzuzeichnen, welche ein künftiges, stärker in seiner Geschichte verwurzeltes Europa tragen könnten, und da es im gegebenen Kontext vor allem um die Frage von Identität und Werten gehen soll, müssen wir uns mit einigen vor allem auf diese Aspekte abzielenden Beobachtungen und Überlegungen zufriedengeben. Als Cicero seine Schrift »De re publica« schrieb, kritisierte er Platon dafür, den von ihm entworfenen Idealstaat einzig auf abstrakte Argumente gegründet zu haben, während er selbst es bevorzugte, den »besten Zustand der Republik«, den »optimus status rei publicae«, lieber auf einer idealisierten Beschreibung der vergangenen Geschichte seiner eigenen Stadt, Rom, fußen zu lassen: »Leichter aber werde ich erreichen, was ich mir vorgesetzt, wenn ich Euch unser Gemeinwesen bei der Geburt, im Wachsen, in der Reife und schon in Festigkeit und Stärke zeige, als wenn ich mir irgendeines selbst ausdenke, wie Sokrates bei Platon.« (Rep. 2.1, Übers. K. Büchner).

 

Indem er also eine dynamische Sicht der römischen Vergangenheit entwickelte, unternahm Cicero es zu zeigen, wo die Bürger die falschen, und wo sie die richtigen Entscheidungen getroffen hatten, und wie es möglich sein könnte, durch Rückbesinnung auf die Traditionen der Vorväter die Republik wieder auf den richtigen Pfad zu bringen. Im folgenden werden wir versuchen, genau diese Methode zu übernehmen, um einen geeigneteren Zugang zum Verständnis der gegenwärtigen Krise der europäischen Vereinigung zu skizzieren und uns Gedanken über eine künftige ideale Verfassung zu machen, wobei wir zeigen wollen, daß die bestmögliche Ordnung unseres Kontinents sich nicht aus reiner Abstraktion ergibt, sondern aus einem gründlichen Studium unserer Geschichte und der Anwendung ihrer Erfahrungen auf unsere eigene Zeit.

 

  1. 2. Politische Vereinigung und traditionelle Werte

Wie alle menschlichen Kulturen entfalteten sich auch die politischen Strukturen Europas im Kontext einer etwa tausendjährigen Geschichte. Von verschiedensten lokalen und regionalen Einheiten ausgehend, welche nur sehr lose durch die gemeinsame Treue zum Heiligen Römischen Reich (später mit dem Zusatz »deutscher Nation«) miteinander verbunden waren, entwickelte sich Europa über verstreute feudale Fürstentümer allmählich zu frühneuzeitlichen Territorialstaaten, welche sich früher oder später zu Nationalstaaten wandelten, deren Identität sich über bereits lange existierende, nun aber zunehmend homogene sprachliche wie kulturelle Gemeinschaften definierte. Doch auch die Nationalstaaten waren nicht das Ende der Geschichte, denn rasch formten sie übernationale Gemeinschaften, die meist auf abstrakten Prinzipien wie »Freiheit« oder »Gleichheit« basierten und entweder durch Eroberung begründet wurden (wie in der napoleonischen Zeit, während der Weltkriege oder durch die Sowjetunion) oder aber durch mehr oder weniger »freiwilligen« Zusammenschluß, wobei freilich auch hier meist ein militärischer Kontext vorlag (wie im Falle der Heiligen Allianz, des frühen Völkerbundes – oder, schließlich, der Europäischen Union).

Angesichts der Analogien mit anderen Zivilisationen, die allesamt nach einer Phase frühzeitlicher Einigung einen ähnlichen Gang von kleinen zu großen politischen Einheiten beschritten haben, ist es nicht unwahrscheinlich, daß auch das moderne Europa den Zyklus seiner Evolution mehr oder weniger abgeschlossen hat und nunmehr, nach mehr als 1000 Jahren Geschichte, erneut an seine frühzeitliche Einheit anknüpfen wird (eine Tendenz, die sich kaum zufällig in der erneuten Bedeutung Karls des Großen, des »pater Europae«, mitsamt der alten Kaiserstadt Aachen im Kontext der verschiedensten Bemühungen manifestiert, die europäische Einheit zu stärken).

Es würde nun zu weit führen, im Detail nachzuweisen, daß ein solcher zyklischer Anschluß an die Frühzeit alles andere als eine Ausnahme in der Weltgeschichte ist, denkt man etwa an das klassische China, wo die Kaiser der Han-Dynastie sich als Erben der mythischen Urkaiser präsentierten; an den Iran, wo die späten Sassaniden an die Periode der Achaimeniden anknüpften; an die antike Welt, wo Augustus sich als neuer Agamemnon und Romulus gerierte; an das hinduistische Indien, wo die Gupta-Herrscher auf den mythischen Urherrscher Prithu verwiesen; oder an die spätklassische muslimische Welt, wo die Fatimiden sich nicht nur als Erben Abrahams und der Propheten, sondern selbst Alexanders des Großen verstanden.

Nun zeigt die Geschichte allerdings auch, daß der Wegzu dieser schlußendlichen Vereinigung alles andere als reibungslos verläuft, unter anderem, weil natürlich die ursprüngliche Einheit einer jeden Kultur wesentlich auf Glauben und Tradition beruht, während sie sich in der Spätzeit zunächst auf den in jeder Zivilisation vorhandenen Rationalismus gründet und dementsprechend lediglich durch abstrakte, universalistische und humanistische Beweggründe legitimiert. Die bald entstehende Spannung zwischen Traditionalismus und Universalismus führt dann früher oder später immer zu einem Zeitalter der Unruhe und des Konflikts, sei es in China, Iran, Indien, Rom oder der muslimischen Welt, bis es schließlich als dialektisches Resultat dieser Auseinandersetzung zur endgültigen Festigung einer nicht nur politischen, sondern auch identitären Vereinigung kommt, welche nunmehr ganz bewußt wieder in Tradition und Geschichte verankert ist. Gerade dies ist genau die Situation, in der sich die gegenwärtige Europäische Union wiederfindet. Denn anstatt sich selbst in die Kontinuität eines ganzen Jahrtausends komplexer Geschichte zu stellen und ihre Existenz in der positiven Auseinandersetzung mitdiesem uralten Erbe zu verwurzeln, wie es etwa die mittelalterlichen Denker taten, wenn sie sich bescheiden als »Zwerge auf den Schultern von Riesen« betrachteten, bevorzugen es die intellektuellen und politischen Eliten der Europäischen Union, die »eigentliche Geschichte« mit der Französischen Revolution, ja manchmal sogar erst mit dem Zweiten Weltkrieg beginnen zu lassen, und tun in flagranter Unbildung die Vorgeschichte als belanglose Zusammenstellung von Krieg, Ungleichheit und Unterdrückung ab, wie es etwa in der hoch-ideologisierten Geschichtsdarstellung des sogenannten »Hauses der europäischen Geschichte« in Brüssel allzu deutlich wird.

Diese Arroganz angesichts der eigenen Vergangenheit findet ihr Korrelat in dem seltsam eurozentrischen Versuch, allen anderen Völkern die gegenwärtige Ansammlung »politisch korrekter« Vorstellungen – subsumiert unter der Bezeichnung der »unsterblichen« »europäischen Werte« – rücksichtslos aufzuzwingen, gleichzeitig aber Kernfragen kultureller Identität als belanglos auszublenden, sodaß es zwangsläufig nicht etwa zu einer glücklichen Integration zugewanderter Minderheiten oder einer immer besseren, auf einem echten Interesse für die Besonderheiten des Anderen beruhenden Verständigung zwischen den Völkern kommt, sondern ganz im Gegenteil Haß und Verachtung außen wie innen zunehmen und der »Alte Kontinent« mehr und mehr in eine durch seine eigene moralische Überheblichkeit verschuldete Krise ungeahnten Ausmaßes gerät.

In der Tat geht das von den Europäern entwickelte, einzigartige politische und gesellschaftliche System

nicht erst auf das Jahr 1789 zurück, sondern ist mehr als ein Jahrtausend alt: Demokratische Wahlen fanden nicht erst seit der Gründung der USA, sondern bereits in den Klöstern der Spätantike statt; komplexe Handels- und Zollabkommen sind keine Frucht des 19. Jahrhundert, sondern wurden bereits von den Städten der Hanse praktiziert; der technische Fortschritt begann nicht erst mit der Industrialisierung, sondern mit den bahnbrechenden Erfindungen der Zisterzienser; der intensive europaweite kulturelle Diskurs hatte nicht auf den Erasmus-Austausch zu warten, sondern wurde schon von den Handwerkern,

Studenten und Dozenten des Mittelalters gepflegt; örtliche Selbstverwaltung ist keine Frucht der Gesetzgebung über die Euroregionen, sondern im Abendland mindestens so alt wie die Verfassung der italienischen Kommunen; die ersten territorialen Republiken sind nicht die Frucht der Aufklärung, sondern des freiwilligen Zusammenschlusses Schweizer Bauern im 13. Jahrhundert; das friedliche Zusammenleben von Judentum, Christentum und Islam nicht auf die Ideologie des »Multikulturalismus« angewiesen, sondern prägte bereits den Alltag der Polnisch- Litauischen Republik; und selbst das Konzept nationaler Identitäten geht nicht erst auf die Romantik zurück, sondern wurde schon der Organisation der großen Universitäten des Mittelalters zugrunde gelegt – und die Liste ließe sich noch lange fortsetzen.

Angesichts der nahezu täglich eintreffenden Hiobsbotschaften ist es mehr als fraglich, daß das Abendland eine Ausnahme von der Regel darstellen wird, der zufolge die endzeitliche Vereinigung einer Zivilisation immer aus einem Zeitraum intensiver Unruhen erwächst. Es ist allerdings nicht unwahrscheinlich, daß eine frühe Einsicht in diese Gefahr, verbunden mit einem aufmerksamen Studium der Geschichte, dabei helfen kann, schon heute eine alternative Vision einer reformierten Europäischen Union zu entwickeln, welche als eine Art »regulativer Idee« einen Beitrag dazu liefern kann, die Wirren der anstehenden Krisenzeit möglichst abzukürzen und den Weg zu einer erneuten Verständigung der europäischen Völker zu ebnen. Betrachtet man die Lehren, welche sich aus der Beschäftigung mit vergangenen Zivilisationen ergeben, läge einer der Schlüssel zu einer solchen Reform in einer positiven Haltung gegenüber den Traditionen und historischen Werten unserer gemeinsamen abendländischen Vergangenheit, um aus einer solchen die Inspiration für eine wahrhaft »europäische« Union zu ziehen, welche

mehr sein will als eine bloße Reaktion auf den Zweiten Weltkrieg, sondern die bis in die früheste Vergangenheit zurückblicken und sich in ihrer seelischen und nicht bloß

zeitlichen Kontinuität empfinden will.

Dies ist es auch, was ich mit dem Begriff »Hesperialismus«  möchte: Eine neue politische Ideologie, welche aus Respekt vor unserer gemeinsamen Vergangenheitzsowie vor den anstehenden, alle Europäer betreffenden Herausforderungen der Zukunft zwar eine auf Kernfragen begrenzte europäische Integration befürwortet, sichgleichzeitig aber strikt weigert, lokale, regionale und nationale Traditionen unter der vereinten Masse von Multikulturalismus, Individualismus, Turbokapitalismus und Globalisierung begraben zu lassen. Wie aber würde nun ein solches neues Europa konkret aussehen können?

 

  1. Die neue Europäische Union und der alte Reichsgedanke

ff