Was ist Europa, was will Europa?

( veröffentlicht in „Die Presse“, Wien, vom 5. 11.2021, geringfügig gekürzt)

Gastkommentar: Um das Selbstbewusstsein und die Selbstrelativierung steht es im Jahr 2021 so schlecht wie nie zuvor

 

Ja, die EU hat recht, auf der Unabhängigkeit der polnischen Justiz zu bestehen. Der Konflikt mag der falsche Anlass dafür sein, aber ein Diskurs zu Europas Zukunft ist überfällig.

Denn ist Europa wirklich nur Spitzenkonsum plus Sozialversicherung? Kulturelle Identität und daraus abgeleitete politische Finalität sind zentrale Fragen, um die sich die EU bisher gedrückt hat. Das hat in taktischen Fragen Kompromisse erleichtert und geholfen, nationale Egoismen zu verschleiern. Unter die Räder kam dabei nicht nur die klare Trennung zwischen gemeinschaftlichen und nationalen bzw. regionalen Zuständigkeiten, sondern vor allem auch die Entwicklung eines belastbaren Selbstverständnisses der EU. Man sollte es besser wissen: Wer bin ich?  Was soll ich? Wohin gehe ich?  – das sind die Fragen, die seit Jahrtausenden immer wieder neu gestellt werden, sowohl individuell als auch von sozialen Einheiten jeder Größenordnung. Die Beschäftigung mit diesen Fragen ist für das reale Leben viel wichtiger als die Antworten, denn diese müssen sich auch ändern können – einmal mehr ist schon der Weg das Ziel, weil diese Fragen auf die ständige Prüfung des Verhältnisses zwischen dem Selbst und seiner gesamten Umwelt hinauslaufen; und diese Selbst-Relativierung wiederum die Voraussetzung für vernünftige Entscheidungen ist.

 

Wie schlecht es um Europas Selbst-Bewusstsein und Selbst-Relativierung steht, ist im Sommer 2021 besonders deutlich geworden: So meint Christian Ortner in der Wiener „Presse“ zur Niederlage des Westens in Afghanistan „Wer sich selbst verachtet– weil er seine Identität für wertlos hält und kein überzeugendes Sinnstreben verspürt –  kann keinen Krieg gewinnen“, und tatsächlich, wenn heute ein Moslem die westlichen Medien verfolgt, „wird er zwangsläufig zum Schluss kommen, es hier mit einem desorientierten, dekadenten und selbstbehauptungsunwilligen Haufen zu tun zu haben,“ und der, wie Ortner fortfährt, „kein Interesse hat außer sich zu Tode zu amüsieren, seine Komfortzone nicht zu verlassen und sich mit „Problemen“ wie dem Gendermainstreaming in Afghanistan zu beschäftigen.“

 

Kurz: Europa und dem Westen haben heute zu wenig von dem, was letztlich Gemeinsinn, was kulturelle Resilienz ausmacht: das entscheidende Mehr an Identität und Sinngefühl, um auch in einer anti-westlichen Umwelt bestehen zu können.

 

Der Versuch, der EU eine Verfassung zu geben, ist bekanntlich gescheitert, der als Ersatz 2007 beschlossene Vertrag von Lissabon hat vieles davon offengelassen. So blieb die Legislative der EU unterentwickelt, und an ihre Stelle tritt oft der EU-Gerichtshof: Unter dem Druck existentieller Herausforderungen der EU haben seine Richter im Sinne der „Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker“ Grauzonen der Zuständigkeiten zu Lasten der Mitgliedsländer zentralistisch und rein materialistisch ausgelegt. Nicht nur, dass diese Praxis kaum, wie im EU-Vertrag gefordert, als „offen“ und ,„bürgernah“ gelten kann und seine demokratische Legitimation extrem dürftig ist, gleicht die EU damit einem immer schiefer werdenden Turm von Pisa: Im Zuge einer Salami-Taktik werden mehr und mehr EU-Zuständigkeiten wie dünne Scheiben an den Rand des soliden demokratischen Fundaments der Mitgliedsstaaten gelegt – aber mangels solider Verankerung mit den Vorstellungen der Bürger zu Identität und Finalität steht der Schwerpunkt des ganzen Turms nun an die Kippe.

 

Für ein positives Selbstbewusstsein braucht es also die Selbst-Relativierung, die man mit Letzten Fragen erwirbt. Auf der Suche nach Antworten wird man in der kulturellen Vielfalt Europas genug tragende Elemente zu finden, um daraus die notwendige politische Zuversicht zu gewinnen. Ehrliche Sucher werden dabei zwei Dinge entdecken: zum einen die Einsicht, dass Identität und Sinnfindung nicht zentral angeordnet werden kann; und zum anderen, wie stark Europa noch immer von seinem christlichen Erbe – warts and all – lebt und überlebt.

 

Botschafter i.R. Michael Breisky (*1940) trat 1967 in den Dienst des Außenamtes ein. Kürzlich erschien sein Buch „Mit ‚Austrian Mind‘ über den Tellerrand hinaus“ als Mutmacher zur Coronakrise.