2011 Artikel: Leopold Kohr und die Grenzen der Komplexität

MANAGERismus – Denkzettel Nr. 16

https://www.managerismus.com/themen/groesse-und-komplexitaet/denkzettel-nr-16

Hier die etwas überarbeitete Version eines Essays, das zuvor unter dem Titel „Klein ist wundervoll“ in der Februar-Ausgabe 2011 des ROTARY-Magazins erschienen ist.

 

Wer Finanzkrisen, Wutbürger und Fukushima als Symptom einer tiefen Systemkrise deutet und nicht an ein „Too Big To Fail“ glauben kann, der wird sich gerne an Leopold Kohr erinnern. Tatsächlich hat der 1909 im Salzburgischen geborene Philosoph und Wirtschaftsprofessor, der 1983 für die Begründung der Small is beautiful-Bewegung den Alternativen Nobelpreis erhielt, ein Weltbild entwickelt, das auch im 21. Jahrhundert volle Geltung beanspruchen kann.

Drei Grundwahrheiten

Stets glasklar und mit fröhlichem Humor argumentierend, lassen sich die Thesen dieses Vorkämpfers für das „Menschliche Maß“ in drei einfachen Wahrheiten zusammenfassen:

  1. 1.Jeder freie Mensch ist jederzeit für Überraschungen gut.

  2. 2.Wenn etwas größer wird, wird es gleichzeitig vielfach komplizierter.

  3. 3.Wenn etwas zu kompliziert geworden ist, werden die Überraschungen böse sein.

Die Überraschungsfähigkeit des Menschen ist für Kohr der Urgrund seiner Individualität und Würde; ist aber auch Sicherung gegen Manipulation und die Grundlage der Demokratie. Das ist ein optimistisches Menschenbild, jedoch mit strengen Voraussetzungen: Sei es, dass man bereit ist, die eigene hohe Fehler-Anfälligkeit im freien Meinungsaustausch mit Freunden einzudämmen (am besten im freien Diskurs der von Kohr so geliebten „akademischen Wirtshäuser“); oder dass man Rahmenbedingungen für ein kleines und überschaubares Umfeld schafft, das dem Menschen ein längeres Verstecken in Anonymität verwehrt. Denn dieses Verstecken ist so bequem wie gefährlich, der Einzelne will ja gefordert werden. Zwar schenkt der Massenstaat dem Einzelnen berauschende Emotionen und ein kurzes Gefühl der Geborgenheit; die fehlenden Kontrollmöglichkeiten führen aber langfristig zu hohen Kosten, Unfreiheit und schließlich zum Untergang. So sieht Kohr ein Spannungsverhältnis zwischen zwei Extremen: Utopisch, aber trotzdem anzustreben ist das Ideal eines „romantischen Anarchismus“, wo der Einzelne frei von Gewalt und Hierarchien lebt. Das andere Extrem ist der absolute Tiefpunkt von Fremdbestimmung, wo der Mensch in seiner Anonymität voll berechenbar geworden ist.

Kohrs Warnung vor überkomplizierter Größe ist Kern seiner Gesellschaftstheorie. Sie folgt der Naturbeobachtung, wonach Größenwachstum zwar grundsätzlich von Vorteil ist, jedoch die im Vergleich zum Größenwachstum stark überproportional steigenden Koordinierungskosten ab einem kritischen Punkt dazu neigen, zur Belastung zu werden; was dann – wie bei der Zelle – spontan zur Teilung und Bildung neuer Organismen oder zum Untergang führt. Kohr fordert daher auch von der Politik, zu groß gewordene Staaten und sonstige soziale Einheiten in mehrere Einheiten subkritischer Größe aufzuteilen. Wo dieser kritische Punkt liegt, hängt hauptsächlich vom Zweck der Gemeinschaft ab, dann auch von der Qualität ihrer Organisation, der Siedlungsdichte sowie – ähnlich der Inflationstheorie – von der wirtschaftlichen Umlaufgeschwindigkeit.

Die bösen Überraschungen bei „zu groß“, „zu kompliziert“ und letztlich unüberschaubar gewordenen Einheiten schließen den Kreis um Kohrs Vorstellungen von Mensch und Gesellschaft. Sie sind „böse“, weil die Folgen überzogener Größe meist an unerwarteter Stelle auftreten. Das gilt auch für Abstraktionen; das heißt, wo man komplexe Dinge auf das Wesentliche reduziert und diese Abstraktionen dann auf andere, meist größere Umfelder projiziert – typischerweise mit Hilfe von Ideologien oder großen Ideen. Kohr meint dazu, dass das Paracelsus-Wort „Jede Arznei ist Gift – entscheidend ist nur die Dosis“ auch dafür gelte; so haben etwa auf Nation, Klasse oder Markt gebaute Ideologien zunächst hohe Erklärungskraft, würden aber bei maßloser Anwendung gleichfalls für böse Überraschungen sorgen. Gleiches gilt heute wohl für Outsourcing und Währungsunion.

Kohrs politisches Ideal

Das ist der Stadtstaat, wie er im antiken Griechenland, im mittelalterlichen Oberitalien oder in der deutschen Kleinstaaterei des Heiligen Römischen Reichs bestanden hat. Dort blühten Kultur und Bürgersinn, weil alles überschaubar war und man weniger Geld in militärische Machterhaltung stecken musste (weil fehlende Macht auch weniger Misstrauen erzeugt, ein Kohr besonders am Herzen liegender Aspekt). Daher lobt er immer wieder Liechtenstein und die Schweizer Kantonalverfassung. Für die Zukunft sucht Kohr im Einklang mit dem Subsidiaritätsprinzip eine deutliche Stärkung der historischen (kleinen) Regionen Europas und die zumindest faktische Entmachtung der großen Nationalstaaten. Nur so könne auch auf europäischer Ebene die notwendige Harmonisierung überregionaler Bedürfnisse stattfinden, ohne dabei die „Kleinen“ zu marginalisieren. Heute würde Kohr an der EU vor allem ihre Fixierung auf Einheitlichkeit kritisieren: ist sie doch die Autobahn zur Maßlosigkeit.

Menschliches Maß als Leitlinie

Kleinheit ist also für Kohr kein Selbstzweck; im Zentrum seiner Philosophie steht ja das Wohl des einzelnen Menschen – und nicht das Kollektiv oder eine große Idee. Zwar geißelt er in seinen Aphorismen und plakativen Vergleichen überzogenes „Größenwachstum“ als Kern allen Übels auf der Welt, doch wird bei näherer Betrachtung klar, dass er nicht Größe an sich meint, sondern die damit meistens (aber nicht immer!) einhergehende Komplexität bzw. fehlende Überschaubarkeit. Menschliches Maß erfordert also ein zumindest grobes und ganzheitliches Erfassen aller maßgeblichen Wirkungszusammenhänge. Wie schon aus den drei Grundwahrheiten ersichtlich, begründet er seine Warnung vor Überschreiten des „kritischen Punkts“ von drei Seiten:

  1. 1.gesellschaftspolitisch, gestützt auf harte Zahlen der Kosten/Nutzen-Rechnung;

  2. 2.philosophisch, gestützt auf psychologisches Erfahrungswissen über die sozialen Rahmenbedingungen individueller menschlicher Entfaltung;

  3. 3.rein rational, durch wiederholte Hinterfragung der Abstraktionen, die hinter den „großen Ideen“ stehen (dieser Ansatz ist wohl besonders revolutionär, da er die Methodik aufklärerischen Denkens kritisiert: aus Abstraktionen werden – etwa in Laborversuchen – kleine Modelle erarbeitet und in linearer Projektion in größere Umfelder umgesetzt).

Die 2008 ausgebrochene Finanzkrise hat Kohrs Warnungen voll bestätigt: Wenn sich nicht einmal die Finanzwelt in ihren Derivaten auskennt, dann ist die große Gier des Neo-Liberalismus mit Vollgas in die Nebelwand gefahren. Und weil man nicht nur im Finanzbereich an Komplexität scheitert, muss das Selbstverständnis der Globalisierung neu aufgestellt werden.

Unterstützung von Anderen

Fürst Hans-Adam II. von Liechtenstein zeigt in „Der Staat im dritten Jahrtausend“, dass im Dreieck von (Erb- oder Wahl-) Monarchen, Oligarchen (früher Adel, heute Parteibonzen und wohl auch Banker) sowie einfachem Volk – ein Dreieck, das so alt ist wie die Menschheitsgeschichte – heute die Oligarchen viel zu mächtig sind und zu Gunsten von Volk und Monarchen zurückgestutzt werden müssen. Wenn man davon ausgeht, dass die Oligarchen so mächtig sind, weil sie vorgeblich besser mit Komplexität umgehen können, dann ist klar: Oligarchen können am besten durch Abbau von Komplexität eingebremst werden.

Nassim Nicholas Taleb beschreibt in seinem Buch „Der schwarze Schwan“, wie bei extremen Risiken komplexe Fragen nicht kalkuliert werden können und wie oft gerade die für extrem unwahrscheinlich gehaltenen Risiken schlagend werden.

Durch die evolutionäre Erkenntnis-Theorie (R. Riedl, H. v Ditfurth, G. Vollmer, ähnlich auch A. Dijksterhuis und meine eigenen Beiträge) lässt sich erklären, warum der Umgang mit Komplexität schon aus biologischen Gründen sehr begrenzt ist: Gefährlich ist es besonders dort, wo der rational Denkende nicht die Risiken erkennen kann, die außerhalb bewusster Aufmerksamkeit liegen. Solche Risiken lässt uns die biologischen Evolution nur mit “unvernünftiger“ Hilfe erkennen: und zwar zunächst mit Mitteln instinktmäßiger Informationsauswertung, die uns spontan alles Bemerkenswerte meldet; später dann auch aus irrationalen Quellen wie Religion, Harmoniestreben und beständige Tradition. Diesen ganzheitlichen Flankenschutz der Vernunft abgebaut zu haben, ist heute nicht nur der ganze Stolz einer angeblich aufgeklärten Welt, es bringt uns auch in eine böse Scherenentwicklung: Neigen wir doch durch Globalisierung und neue Technik zu immer größeren, gewichtigeren und rein vernunftmäßigen Projektionen rund um den Erdball.

Umkehrung der Globalisierung?

Nun gelingt, wie bei Fahrten im Nebel, ja auch in der Globalisierung so manches – sei es der grenzenlose Informationsaustausch, die universelle Geltung der Menschenrechte oder das neue Bewusstsein globaler Wirkungszusammenhänge, wie wir es etwa für die Klimapolitik benötigen. Soweit aber die Globalisierung ein Vernunft-Projekt ist, lauern überall Kohrs „böse Überraschungen“. Daher sollten wir uns außerhalb des überschaubaren Umfelds sehr vorsichtig bewegen und genau prüfen, wem die Beweislast für die Unbedenklichkeit weiterer Nebelfahrten zukommt.

Die Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels ist heute mit Händen zu greifen. Auf den verschiedensten Sachgebieten – von der Religion über Sicherheitspolitik, Energiefragen und Demokratie-Krise bis hin zur Geldwirtschaft – weisen einige Trends tatsächlich in Richtung Kohr. Keiner dieser Trends hat sich heute bereits durchgesetzt, doch sind sie bisher unabhängig voneinander entstanden und gelaufen. Es ist wohl nur eine Frage der Zeit, bis diese Trends politisch verknüpft werden und eine neue Dynamik des Regionalismus entfalten.

 

Von Dr. Michael Breisky, Botschafter a.D. (www.breisky.at) erschien 2010 im „Groß ist ungeschickt. Leopold Kohr im Zeitalter der Post-Globalisierung“