Europas Demokratie und die Informations-Überflutung

 

Links und rechts im Verfolgungswahn

Demokratie. Der demokratische Diskurs scheint kaputt. Zu viele fühlen sich moralisch überlegen und unverstanden.

Gastkommentar in „Die Presse“, Wien
Samstag, April 29, 2023

Europa muss sich die Frage stellen, ob und wie Demokratie in Zeiten der Tatsachen- und Dialogverweigerung überleben kann. Das zeigt sich am Aufstieg der politischen Extreme: einerseits rechtspopulistische, also rückwärtsgewandte Wutbürger und andererseits vorwiegend links-elitäre Fundamentalisten mit frei gewählten Identitäten. Die alte Studenten-Weisheit „Links liest wirre Bücher, rechts trinkt Bier“ bestimmt den politischen Alltag: Beide Seiten halten ihre subjektive Befindlichkeit als verfolgte Minderheit für den Beweis ihrer moralischen Überlegenheit und machen sie zur obersten Instanz von Moral und Politik. Sie sind daher an objektiver Tatsachenfeststellung ebenso wenig interessiert wie am demokratischen Diskurs. Wie in der Pandemie vorgeführt, sind Argumente der Fakten für sie nur Ausdruck von Verschwörungstheorien. Die breite Mitte der Politik, vor kurzem noch die schweigende Mehrheit, besteht offenbar nur mehr aus weißen alten Männern.

Maßlose Befindlichkeitskultur

Erklären lässt sich diese maßlose Befindlichkeitskultur durch die Informationsüberflutung (Information Overload) unserer immer unübersichtlicher werdenden Welt. Exzesse von Werbung, neuen Medien und Smartphone-Sucht steigern diese Reizüberflutung noch wesentlich. Und auch die zunehmende Wissenschaftsskepsis gehört dazu: Wer sein mühsam erarbeitetes Weltbild unter dem Druck ständig neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse immer wieder auf den Kopf gestellt sieht, empfindet das als Souveränitätsverlust und schaltet ab.

Befindlichkeitsanhänger sind somit weder dumm noch böse, s ie sind „nur“ durch gesellschaftliche Fahrlässigkeit überfordert. Die psychologische Ursache für Tatsachen- und Diskursverweigerung liegt nicht nur darin, dass das Negative in der Informationsflut schon aus genetischen Gründen mehr Aufmerksamkeit bekommt als das Positive. Wenn nichts Positives nachkommt, kommt auch eine Negativspirale in Gang, bis hin zu blinder Wut. All das folgt unserer genetisch beschränkten Kapazität der Informationsverarbeitung, die noch immer auf dem Niveau der Steinzeit liegt. Pointiert gesprochen: Wenn in der Flut der Informationen die Neugier ertrinkt, wird der Mensch zur virtuellen Wasserleiche. Die Planungshorizonte sinken, der Reformstau steigt, und der Kampf um die immer kürzer werdende Aufmerksamkeitsspanne der Käufer und Wähler ist zur Zukunftsfrage des Homo sapiens geworden – künstliche Intelligenz lässt grüßen!

Nicht als Gegner sehen

Es gibt also jene, die mit allen Mitteln eine idealisierte Vergangenheit wiederbeleben wollen und Tatsachen leugnen. Und andere, die woke sein wollen und Cancel Culture betreiben – sie alle sollten tunlichst nicht als Gegner angesprochen werden, sondern als Opfer dieser Informationsüberflutung. Sie als böse oder geistig minderbemittelt abzuwerten hilft niemandem, vielmehr besteht bei Anerkennung ihres Opferstatus die Chance, die Negativspirale zu durchbrechen und damit wieder diskursfähig zu werden.

Politisch bedeutet das zunächst, dass die begrenzte Kapazität des Gehirns zur Informationsverarbeitung voll anerkannt werden muss. Neugierverschwendung muss vermieden werden – demokratiepolitisch nicht leicht, aber möglich: Um die Aufmerksamkeitsspannen zu entlasten, verfügen erste Gemeinden bereits Plakatverbote im öffentlichen Raum – und auch gegen den Wildwuchs in der Welt der Neuen Medien sollten demokratietaugliche Beschränkungen gefunden werden.

Maßlos viel Information hat Ähnlichkeiten mit maßlos viel CO 2 : Nicht nur, dass der Ausstoß der beiden Dinge nicht zu beseitigen, sondern „nur“ möglichst niedrig zu halten ist, ergeben sich hier für die Politik starke Querverbindungen, die noch auszuloten wären. Und wir müssen möglichst vielvom politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Geschehen auf die Ebene ganzheitlicher Überschaubarkeit bringen.

Diese Strategie setzt an der biologischen Struktur unseres Gehirns an und soll den Vorteil nutzen, dass im überschaubaren Bereich unser ganzheitliches Denken dominiert, das gegenüber dem sprachlich-abstrakten Denken eine millionenfach höhere Kapazität der Informationsverarbeitung hat. Allerdings gibt es diese Art von Überschaubarkeit nur im lokalen sozialen Raum, wo Sinnesimpulse unsere Erfahrungen laufend ergänzen.

Darin liegt auch die Wurzel des Subsidiaritätsprinzips – bei dem „oben“ nur das machen soll, was „unten“ nicht kann – und nicht das, wozu „oben“ keine Lust hat. Das heißt: Im Dorf merken wir (und unsere Nachbarn!) sofort, wenn wir etwas falsch machen – sei es zu viel Internet-Tratsch, sei es zu viel fossile Verbrennung. So soll also nach Leopold Kohr, dem Philosophen des menschlichen Maßes, die gesamte Grundversorgung durch überschaubare Regionen die Regel sein und alles andere die Ausnahme – gewiss eine radikale Wende, aber besser, als in einer Welt virtueller Wasserleichen zu versinken.

DER AUTOR

Botschafter i. R. Michael Breisky

(* 1940) trat 1967 in den Dienst des Außenamts ein. Kürzlich erschien sein Buch „Mit ,Austrian Mind‘ über den Te llerrand hinaus“ als Mutmacher zur Coronakrise. [ Beigestellt]