Michael Breisky:
Böckenförde revisited:
Gesetz und Gemeinsinn ergänzen sich wie hard powerund soft power
Das Böckenförde-Diktum
Am 24. Februar 2019 verstarb ein Mann, von dem ein knapper Satz als „das E = mc² der Staatsrechtslehre“ bezeichnet wird. Mit Einstein auf eine Stufe gestellt wurde da der 1930 geborene Rechtsphilosophund Richter am deutschen Bundesverfassungsgericht, Ernst Wolfram Böckenförde. Das nach ihm benannte Diktum lautet: „Der freiheitliche Verfassungsstaat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“. Es gibt also auch Dinge in der Organisation des Staates, die selbst das Verfassungsgesetz – als die absolute Spitze im Stufenbau der Rechtsordnung – respektieren muss.
Böckenförde meint, dass der liberale Verfassungsstaat das Wagnis einer Selbstbegrenzung eingehen muss, um wahre Freiheit sichern zu können: „Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Anderseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben“; er würde damit – nun auf säkularisierter Ebene – „in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat.“
Es ist das also nicht etwa eine Selbstbegrenzung vor Beliebigkeit, sondern vor konkreten, aus anderer Quelle fließenden Werten. Böckenförde weiter: Dieser Staat „braucht einverbindendes Ethos, eine Art „Gemeinsinn“ bei denen, die in diesemStaat leben. Die Frage ist dann: Woraus speist sich dieses Ethos? […]man kann sagen: zunächst von der gelebten Kultur. Aber was sind die Faktoren und Elemente dieser Kultur? Da sind wir dann in der Tat bei Quellen wie Christentum, Aufklärung und Humanismus. Aber nicht automatisch bei jeder Religion“.
Was ist Gemeinsinn?
Zunächst: Gemeinsinn versteht sich als Selbstverständlichkeit und ist daher – weil sinnvolle Sprache immer nur Bemerkenswertes ausdrückt – kaum ausformuliert, Böckenförde nennt aber seine wesentlichen Inhalte. Kurz, es ist der lebendige, mehr oder weniger bewusste Bodensatz kultureller Langzeit-Erfahrungen, die sich um den nachhaltigen Zusammenhalt eines Staates ranken. Das reicht von Ethik bis hin zu den Restbeständen sittlichen Anstands und kreist um die kulturelle Identität des Staates. Weil das nur in einer positiven Grundstimmung zur eigenen Geschichte und Geographie möglich ist, setzt das ein mildes Verständnis für die Gründungsmythen und Hauptstränge der nationalen Geschichte und das darauf aufbauende Brauchtum voraus.
In der Praxis müssen seine Inhalte also „lebendig“ sein und breite Zustimmung finden. Auch das notwendige Maß der Zustimmung ist schwer zu beschreiben, wie der Gemeinsinn ja überhaupt im Diffusen bleibt. Wichtiger ist das Gefühl, sich den meisten seiner Werte verbunden zu fühlen; Abweichungen einer Minderheit von Teilen des Gemeinsinns sind also normal. Das mag für die Mehrheit störend sein, doch erzeugt das Diskurs und schützt damit vor Versteinerung. Wie auch immer, wo seinen Inhalten von mehr als drei Viertel der Bevölkerung zugestimmt wird, wird man von einem starken Gemeinsinn sprechen können. Ohne diesen wird der Verfassungsstaat nicht mehr liberal sein können.
Die zwei Säulen des Gemeinsinns
- Zum einen gehört zum Gemeinsinn die emotionale Bindung; sie ist wesentlich und nicht nur Beiwerk. Gleiches hat Philosoph Hans Jonas in etwas anderem Zusammenhang herausgearbeitet, wenn er zwar aus dem „Sein“ mit ausschließlich rationalen Schlussfolgerungen ein moralisches „Sollen“ ableitet (Quintessenz: „handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden“); für die Durchsetzung seiner doch recht abstrakten Verantwortungsethik hält er allerdings eine andere Kategorie für unumgänglich, nämlich den „Affekt“.Das muss wohl auch für die Bindung an das ähnlich abstrakte Wesen einer staatlichen Gemeinschaft gelten. Und so baut der Gemeinsinn, ohne dem Vernunftdenken zu widersprechen, auch auf die dem Inneren des Menschen viel näher stehende emotionale Ebene. So wie der Mensch nun gebaut ist, spielen da scheinbar irrationale, aber symbolische Äußerlichkeiten eine große Rolle – so wie Hymne und Fahne, aber auch gewisse Gruß- und Bekleidungsformen.
- Zum anderen ist der Gemeinsinn, wie gesagt, diffus bzw. „offen“. Seinem Zweck als Orientierungshilfe kommt er insoweit nach, als die gemeinsamen Werte grob umrissen einleuchtend sind; nicht nur an den Rändern fehlt jedoch Eindeutigkeit. Was zunächst als Nachteil gelten werden mag, ist tatsächlich ein riesiger Vorteil. Denn es weiß zwar jeder, was gemeint ist, aber wo etwa beginnt eine Anstandsverletzung? Wie soll man die Ideale der Schönheit und Gerechtigkeit so klipp und klar beschreiben, dass sie in einen Gesetzestext passen? Dieses Problem hat der Islamwissenschafter Thomas Bauer in der Abhandlung «Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt» untersucht und kommt zum Schluss, dass der heute immer stärker werdende Druck auf „eindeutige“ Aussagen nun zu einem gefährlichen „Ambiguitätsverlust“ führt, der die Gesellschaft mehr und mehr polarisiert: das beginnt bei Religion und Moral, setzt sich fort bei Kultur im allgemeinen und Kunst im besonderen und reicht nicht nur dort bis in die Ästhetik. Das ist zweifellos ein Angriff auf den Gemeinsinn, dessen Tragweite nicht hoch genug eingeschätzt werden darf. Brisante Themen wie die Frage der kulturellen Identität werden aber sinnvoll nur in der Mischung aus diffusem Rand und harten Kern diskutiert werden können.
Die Funktion des Gemeinsinns
Im Gemeinsinn bildet sich wahrscheinlich am schnellsten heraus, wo in der Durchsetzung großer Ideen – sei es etwa Kapitalismus, Digitalisierung oder Toleranz, ja auch die „Durchflutung aller Lebensbereiche mit Demokratie“ – das menschliche Maß überschritten wird, und diese Ideen im Exzess landen. Das gelingt, wo er aus dem Dauer-Diskurs „der Menschen draußen“ entsteht, also vom laufenden, allmählich Form annehmenden Austausch ihrer Beobachtungen und Meinungen, sei es am Gemüsemarkt, im Wirtshaus oder – in geradezu idealer Weise – bei Rotary.
Zentrale Rolle des Gemeinsinns ist es jedoch, den Regelungsbedarf eines Staates durch das Zusammenspiel von Verfassung und Recht einerseits und Gemeinsinn andererseits sicher zu stellen – man kann da von hard powerund soft powersprechen. Denn während Recht und Verfassung stets bei Nichtbefolgung mit Zwangsgewalt drohen müssen; und der Staat daher sehr sparsam damit umgehen sollte; ist der Gemeinsinn „nur“ zwanglose Orientierungshilfe im gesetzfreien Raum, ist also viel beweglicher und freier. Zwar kennt auch die Verletzung des Gemeinsinns Sanktionen, doch eben nur im Bereich der soft power. Ihr Hauptinstrument ist ja die im Extremfall bis zum Mobbing gesteigerte Club-Frage: „gehörst Du zu uns oder bist Du ein Fremder?“Damit gelingt es, den gesetzesfreien Raum vor völliger Beliebigkeit zu bewahren und hilft der Gesetzgebung, der Versuchung zu immer detaillierteren Gesetzen zu widerstehen.
Denn Gesetze ohne Gemeinsinn neigen dazu, überschießend zu sein oder sich in zahlreichen Detailregelungen und Ausnahmen zu verlieren. In der wachsenden Gesetzesflut verliert das Wahlvolk damit jeglichen Überblick, es kommt dann zu einer unheilvollen Entwicklung: Das Wahlvolk glaubt nun, dass der Inhalt der Gesetze von einer Expertokratie bestimmt wird und es selbst nicht mehr zum „Was“, sondern bestenfalls nur mehr zum „Wie“ ihres Zustandekommens gefragt wird. Dem steigenden Unwillen des Wahlvolkes und seinem Ausweichen in die Irrationalität begegnen die herrschenden Eliten mit Unverständnis und Populismusvorwürfen, sie schotten sich damit weiter von der Basis ab. Das Band zwischen Wahlvolk und der herrschenden Elite zerreißt, aus der Expertokratie wird eine Oligarchie, und das böse Ende der Demokratie nimmt seinen Lauf.
Man kann es drehen wie man will: wer sich als Multikulti-Anhänger mit reinem „Verfassungspatriotismus“ zufrieden gibt, kann mit Gemeinsinn nichts anfagen und fördert den Trend zum totalen Staat – ist also letztlich das Gegenteil von liberal.
Grenzen des Gemeinsinns
Dem Böckenförde-Diktum folgend sollte der Gemeinsinn im allgemeinen durchaus in der Lage sein, sich ohne Unterstützung durch die Rechtsordnung – allein mit seinen eigenen Instrumenten des offenen Diskurses sowie der schon erwähnen Club-Frage – weiter zu entwickeln und gegebenenfalls auch zu verteidigen. Trotzdem ist auch die Rechtsordnung gefordert, notfalls den Freiraum des Gemeinsinns mit entsprechende Gesetzen abzusichern; und zwar dort, wo der Freiraum nur mehr theoretisch besteht, tatsächlich jedoch die realen Machtverhältnisse sich – völlig legal – derart entwickelt haben, dass dem Einzelnen die von der Verfassung garantierte Freiheit verwehrt wird. Schon 1976 hat Böckenförde solche Korrekturen des Gesetzgebers gegen monopolistische Strukturen im Bereich der Marktwirtschaft sowie der klassischen Medien gefordert.Ähnliches sollte auch für die neuen sozialen Medien gelten – wobei die Störung der Diskursfähigkeit durch Anonymität und explosionsartige Verbreitung unreflektierter shitstorms noch mehr schaden dürfte als die Monopolstellung der Internet-„Kraken“.
Eine Sonderstellung nimmt hier das Bildungswesen ein – überschneiden sich doch in der Schule Gesetz und Gemeinsinn besonders stark. Hier darf der mit der Jugend heranwachsende Gemeinsinn notfalls auch durch Gesetz vor allzu früher Überlastung geschützt werden; so wird man wohl der Sicherung des Kerns des Gemeinsinns Vorrang vor altersbedingt schwer verständlichen Differenzierungen und Toleranzforderungen einräumen. Denn während direkten Angriffen auf wesentliche Inhalte des Gemeinsinns in der Regel mit einem zivilgesellschaftlichen Diskurs erfolgreich begegnet werden kann; ist das im Schulbereich bei Angriffen auf Sitten und Anstand, die als „reine Äußerlichkeiten“ des täglichen Lebens gelten mögen, viel schwieriger; isoliert gesehen mögen diese Angriffe ja Kleinigkeiten sein, die die Eröffnung eines rationalen Diskurses kaum rechtfertigen und daher oft unterbleiben. Solche Angriffe schwächen jedoch den an Äußerlichkeiten gebundenen Affekt, ohne den Gemeinsinn nicht überleben kann. So wird etwa die Verweigerung des Handschlags mit der Lehrerin duch Söhne von Migranten als Ablehnung Gleichstellung von Mann und Frau zu deuten sein. Hier muss also der Gesetzgeber dem Gemeinsinn zu Hilfe kommen, etwa durch differenzierende Familienbeihilfen.
Eine Grenze ist auch zwischen Gemeinsinn und Populismus zu ziehen. Was die beiden Dinge trennt, ist meist nicht die Motivlage – beiden gemeinsam ist etwa die Ablehnung von „Überfremdung“ oder die ungerechte Verögensverteilung – sondern die daraus zu ziehenden Konsequenzen: Während Gemeinsinn den inhaltlichen Diskurs sucht und Lösungen weitgehend offen lässt, will Populismus den Kurzschluss ohne Diskurs, wo er nach sofortigen Symptomkuren durch gesetzliche Verbote ruft. Dabei ist nicht zu übersehen, dass der Diskurs umso eher gewinnt, je mehr Überschaubarkeit hilft, Argument und Gegenargument abzuwägen; umgekehrt liegen legistische und andere Schnellschüsse nahe, wo eindimensionaler Tunnelblick herrscht. Daraus folgt: schon zur Förderung des Diskurses sollte in der Politik das Subsidiariätsprinzip wegen der deutlich besseren Überschaubarkeit und Kontaktfähigkeit radikal umgesetzt werden – also nicht „unten“ machen lassen, was „oben“ nicht mag; sondern „oben“ nur regeln, was „unten“ nicht kann.
Schließlich zur leidigen Frage des islamischen Kopftuchs: Kleidung ist auch Botschaft des Einzelnen an die Gesellschaft, berührt damit den Gemeinsinn. Zu diesem gehört in Europa das Streben nach äußerer Ästhetik, wie man etwa in der Baukunst an der auf Schönheit bedachten Fassadengestaltung sieht – oder eben an der Frauen-Mode. Während nun das „große“ Kopftuch (Hijab) mit der gänzlichen Verhüllung von Hals und Kopfhaar der europäischen Ästhetik klar widerspricht, werden locker gebundene Kopftücher, die den Haaransatz zwei, drei Finger breit frei lassen – wie sie in muslimischen Ländern wie dem Iran immer mehr üblich werden – hier im Einklang mit der Modegeschichte sehr wohl als ästhetisch empfunden. Philatelisten finden dazu Belege im klassischen „Trachten-Satz“ der Österreichischen Post aus 1948, der in der traditionellen Festtagskleidung von Bürgerinnen und Bäuerinnen zwar durchgehend Kopfbedeckungen aller Art zeigt; bei denen aber Hals- und Haaransatz immer frei bleiben. Es wäre sohin schlicht „schön“ (und jenseits von Erotik, wie auch Schwule bestätigen), wenn sich bei europäische Musliminnen ein zwangloser dress-codenach iranischem Muster durchsetzte.