Der geistige Wiederaufbau Europas hängt an seinem Menschenbild!

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Im Herbst 2019 wurde ich eingeladen, im Juni 2020 an einem Europa-Salon im Tiroler Alpbach teilzunehmen, um die „geistige Wiederaufrüstung Europas“ zu diskutieren. Aus technischen Gründen kann ich diesem Salon leider nicht teilnehmen, doch habe ich aus diesem Anlass das hier vorgestellte Essay verfasst, das durch die Corona-Krise besondere Aktualität erfahren hat, und das ich gerne zur Diskussion stelle. Hier das Abstrakt dazu:

 Europa krankt am falschen Menschenbild

Warum die EU-Reform „unten“ ansetzen muss 

„Das rationalistische Menschenbild, wie es seit der Aufklärung die staatliche und europäische Gesetzgebung beherrscht, ist viel zu anspruchsvoll und darin liegt wohl auch die Hauptursache europäischer Schwäche. Ein zeitgemäßes Menschenbild muss u.a. angeborene Schwächen in der Fähigkeit zu Erkenntnis und Solidarität ebenso berücksichtigen wie das eigentümliche Sinn-Streben des Menschen. Was bisher als menschliche Schwäche gesehen wurde, lässt sich jedoch unter neuen weltpolitischen Gegebenheiten zum Vorteil wenden; und so führt das neue Menschenbild mit der Betonung des Subsidiaritätsprinzip zu einer Aufwertung der Regionen sowie zu  zehn  politischen Leitsätzen eines selbstbewussten Europas. Unter dem Strich bietet das 1806 untergegangene Modell des Heiligen Römischen Reiches mehr zukunftstaugliche Inspiration als die heute in Washington und Peking geübte Staatskunst.”

 Europa krankt am falschen Menschenbild

Warum die EU-Reform „unten“ ansetzen muss  

Eine neue EU-Kommission kann nicht verdecken, dass Europa in einer tiefen Sinnkrise steckt. Die Freiheit von Krieg und Hunger genügt nicht mehr, um notwendige Solidarität zu schaffen. Es muss ein Aufbruch her, auf gesundem Wurzelgrund – mit kleinen Rückschnitten und dem Aufpropfen von etwas Grün ist es nicht getan.

Die Wurzel des Übels hat schon George Bernard Shaw entdeckt: Das missing linkzwischen Affe und Homo sapiens ist endlich gefunden – das sind wir Menschen!

Ich meine: Mit dem rationalistischen Menschenbild vom einzelkämpferischen Homo sapiens, das von Idealisten der Aufklärung geschaffen wurde und bis heute Grundlage staatlicher wie europäischer Gesetzgebung ist, kommen wir nicht mehr weiter: dort gilt ja: Eigennutz ist zentrales Steuerungsmittel, alle anderen Werte haben bestenfalls Geldeswert; es herrschen exzessive Zentralisierung und Einheitlichkeits-Wahn; die verschiedenen kulturellen Prägungen und Bindungen des Menschen werden bagatellisiert; und es gilt trotz steigender Gesetzesflut weiterhin: Unkenntnis der Gesetze schützt nicht einmal im Steuerrecht vor Strafe. Heute leben wir Europäer jedoch in Massendemokratien und sollen mit dem technischen Fortschritt und der Globalisierung fertig werden. Kurz, der Mensch sieht sich überfordert und ruft nach allzu einfachen Lösungen, die erst recht falsch sind. Auf den Punkt gebracht: Politik muss ihr Menschenbild  so korrigieren, dass es sowohl der nicht verhandelbaren Natur des Menschen entspricht als auch vor den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts Bestand hat. Ein solches Bild ist nicht völlig neu, aber es muss nun berücksichtigen:

  1. Jeder Mensch sucht nach dem Sinn des Lebens.

Viktor Frankl spricht vom Drang nach „Selbst-Transzendenz“, also das „sich einsetzen“ und Streben nach etwas, das „größer“ ist als das Selbst[i]- was das Eingehen von Bindungen einschließt. Dieser durchaus spirituelle Aspekt des Menschenbildes steht im Einklang mit der überzeugenden Grundthese in Patrick J. Deneens “Warum der Liberalismus gescheitert ist[ii]: Er scheitert, weil er von der urtümlich niemandem unterworfenen, vollen Autonomie des einzelnen Menschen ausgeht, für die jede nicht vollkommen freiwillige und sofort widerrufbare Bindung naturwidrig und daher zu beenden wäre. Die Vorstellung vom voll auf Eigennutz ausgerichteten Einzelkämpfer des Homo oeconomicus ist da die Folge und mag sich historisch aus dem Umstand erklären, dass die Kirche an der Wende zur Neuzeit auf weltanschaulichem Zwang bestand und zu jeglicher Toleranz unfähig war. Es ist aber überschießend falsch, weil es dem Sinnstreben des menschlichen zo’on politikon entspricht, einen maßvollen Druck auf das Eingehen und Pflegen gesellschaftlicher und/oder spiritueller Bindungen zu akzeptieren, ja auch zu suchen.

  1. Unsere Erkenntnisfähigkeit ist deutlich schwächer als uns die Vernunft suggeriert. Denn außerhalb des Paradieses wächst die Frucht umfassender Erkenntnis nur selten – dort versprach die Schlange mit eritis sicut Deus scientes bonum et malumja Allwissenheit und Selbsterlösung. Am ehesten reift diese Frucht noch in der Schwarmintelligenz des Sozialen Raumes, also aus der Ganzheitlichkeit, die sich aus der laufenden Beobachtung aller Menschen eines überschaubaren Umfelds ergibt, und zwar aus ihrem verbalen wie auch nicht-verbalen Diskurses und ihrer Interaktion. [iii]Kurz, was erst im Zuge des technischen Fortschritts deutlich wurde: Ohne Überschaubarkeit wird sichere Erkenntnis immer schwieriger. Denn die mit der Größe des Umfelds exponentiell zunehmende Komplexität der Dinge lässt auch die Irrtumsanfälligkeit des Menschen exponentiell wachsen, die Ausweitung schöner Ideen scheitert dann an unbedachten Irrtümern oder Nebenwirkungen. und verantwortliche Entscheidungen werden immer mehr zur Glückssache. [1]
  2. Selbstlose Kooperation ist Trumpf: Die biologische Evolution stützt sich nicht nur auf Darwins Wettbewerbs-Prinzip, sondern nicht weniger auch auf selbstlose Kooperation. So ist beim Menschen Kooperation ohne Eigennutz im überschaubaren Umfeld – und nur dort – nachweisbar effizienter als Wettbewerb, weil der Ruf eines Menschen, kooperativ zu sein, in seinem Umfeld einen positiven Schneeball-Effekt auslöst[iv]- wie auch umgekehrt das Image des Egoisten abstoßend wirkt.Ohne Überschaubarkeit schmelzen selbst höchste Kooperations-Bereitschaft, Solidarität und Empathie wie Schnee im späten April – wohl deshalb gibt es das Gebot der Nächsten- und nicht der Fernsten-Liebe. Für letztere setzt sich zwar Verantwortungsethik ein, sie kann aber nicht ausgleichen, was jenseits der Überschaubarkeit an Hilfsbereitschaft verloren geht; und weil das ein sehr kostbares Ding ist, sollen Europa und große Staaten sehr sparsam mit ihr umgehen!Nassim Nicholas Taleb, der seit seinem Klassiker „Der schwarze Schwan“als führender Risiko-Theoretiker gilt, meint: Theoretisch ist es möglich, sowohl moralisch als auch universalistisch zu handeln – in der Praxis jedoch leider nicht; „denn jedes Mal, wenn das „Wir“ ein zu großer Club wird, sinkt das allgemeine Niveau, und jeder fängt an, nur für seine eigenen Interessen zu kämpfen. Das Abstrakte ist für uns viel zu abstrakt.“Leopold Kohr, der Philosoph des Menschlichen Maßes, folgt in seiner Lehre vom „akademischen Wirtshaus“ einem ähnlichen Menschenbild, wenn er dem gesunden Menschen bescheinigt, aus dem beständigen Diskurs mit den Menschen seines Umfelds heraus im Zweifel lieber konstruktiv als destruktiv handeln zu wollen.[v]
  3. Gebot der Nachhaltigkeit: Erst in jüngster Zeit ins Bewusstsein getreten, fordert es im Interesse kommender Generationen den schonenden Umgang mit den natürlichen Ressourcen der Erde – einschließlich Klima und Artenvielfalt – aber auch im zwischenmenschlichen Verhalten eine auf das Überleben der Menschen gerichtete Ethik.[vi]
  4. Überall Überschaubarkeit suchen: Sie spielt bei den hier genannten Elementen des Menschenbildes eine große Rolle. Der Mensch sucht Überschaubarkeit, weil sie ihm ein ganzheitliches Grob-Verständnis von allem ermöglicht, das für seine autonomen Entscheidungen relevant sein kann; geographische Nähe erleichtert die ganzheitliche Sicht der Dinge und ist daher auch wesentliche Quelle des Subsidiaritätsprinzips.

Keine Frage, nehmen wir diese Elemente des Menschenbildes wirklich ernst, so müssen wir in der Politik geradezu utopisch viel verändern, buchstäblich das unterste zum obersten machen. Aber ist nicht das rationalistische Menschenbild die größere Utopie?  Und vor allem: eine geistlose Utopie? Versuchen wir also den Weg des neuen Menschenbildes weiter zu gehen. Wir sollten dann auf dieser Basis die Auswahl, Gewichtung und Interpretation der Werte bzw. Tugenden treffen, an denen sich das konkrete Handeln des Menschen orientieren soll.

Orientierung an Europas Werten

Der schon genannte P.J.Deneen meint, dass der Liberalismus mit den fünf Werten der Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, Würde des Einzelnen und Rechtsstaatlichkeit zwar die richtige Auswahl getroffen hat, das fehlerhafte Menschenbild jedoch zu einer fehlerhaften Umsetzung der Politik geführt hat. Es ist der Freiheitsbegriff, der im Liberalismus falsch verstanden wird: Er betont heute im negativen Sinn, wie schon ausgeführt, die Freiheit von allen Bindungen, während das klassische, ursprüngliche Verständnis die Freiheit für Selbstbestimmung positiv definiert – einschließlich der Freiheit, im Einklang mit der Tugendlehre willentlich Bindungen bzw. Selbst-Relativierungen bis hin zur religiösen Bindung einzugehen. Für P.J.Deneen hat die falsche Betonung der Bindungsfreiheit in den USA (und ähnlich auch in anderen westlichen Ländern) zu einer höchst undemokratischen Polarisierung geführt: die egoistische Elite sichert sich mit Zentralismus und den Institutionen des deep state die ganze Macht, während die bindungslose Masse in Konsumismus und Sexismus ruhig gestellt wird; Demokratie besteht nur mehr dem Namen nach.

Aus der Kombination der von ihm genannten fünf Werte lassen sich zwar weitere Werte ableiten, wie etwa Toleranz undDemokratieaus Gleichheit und Würde. In europäischer Sicht müssen jedoch weitere Werte gesondert hervorgehoben werden: Zum einen der Wert des Respekts vor spiritueller Bindung,   die schon aus den Übereinstimmungen in den Lehren aller Hoch-Religionen wertvolle Lebensweisheiten vermitteln kann; zum anderen und vom Menschenbild abgeleitet eine über den Eigennutz hinaus reichende Solidarität  sowie die mit Überschaubarkeit verbundenen Werte der Subsidiarität.

Allen diesen Werten stehen allerdings Beschränkungen entgegen, die sich aus den schon beschriebenen biologischen Grenzen menschlicher Erkenntnisfähigkeit ergeben. Das sind:

– das Gebot maximaler Orts-Bindung als wichtigste Quelle der Überschaubarkeit.

– das Gebot des Menschlichen Maßes: sind doch Werte sowie die daraus abgeleiteten gesellschaftlichen Ideen letztlich nur Abstraktionen konkreter gesellschaftlicher Erfahrungen. Als Abstraktionen helfen sie zwar, die geringen Kapazitäten sprachlicher Informationsauflösung zu überwinden. So wie Algorithmen sind sie jedoch nur Wahrscheinlichkeitsrechnungen, die darauf wetten, dass das, was zuvor an Konkretem zu recht weg-abstrahiert werden konnte, später nicht wieder schlagend wird. Nicht genug mit diesem Risiko, kennen alle Werte, Ideologien und in der Regel auch alle „großen Ideen“ keine Selbst-Begrenzung, neigen daher zu Fundamentalismus. Sie können nur in „Begegnung mit dem Anderen“ im Maß gehalten und vor Exzess sowie unbedachten Nebenwirkungen bewahrt werden.

Europas Zukunft liegt in der weltweiten Leuchtturmpolitik!

Egal, welchem Menschenbild man anhängt, der „alte Kontinent“ hat nicht mehr das weltpolitische Gewicht der „guten alten Zeit“ vor den Weltkriegen. Heute lassen die wenigen natürlichen Ressourcen, hoher Lebensstandard mit den höchsten Produktionskosten sowie der stark schrumpfender Anteil an der Weltbevölkerung die Vorstellung von einem selbstständigen Europa nur überleben, wenn dieses vom Rest der Welt als ein dem gegenseitigen Nutzen verschriebener Leuchtturm der Kreativität respektiert wird – also als ein erfolgreiches Zukunftslabor.

Natürlich müssen auf dem Weg dorthin die politischen Grundsätze berücksichtigt werden, die sich aus seiner Geschichte und Geographie sowie aus den aktuellen globalen Herausforderungen ergeben. Angesichts  der heute vorherrschenden Resignation in Europa braucht es freilich auch eine geistige Erneuerung, die zu nachhaltigem Zukunfts-Optimismus führt – klar ablesbar an demographischen Daten der Familiengründung. Und diese Erneuerung kann eben nur auf der Grundlage eines realistischen Menschenbildes gelingen. Alles das zusammen führt zu drei politischen Leitsätzen

  1. Europa lebt vom freien Diskurs freier Menschen, der wichtigsten Frucht der Aufklärung.
  2. Europa muss von „unten“ ausgebaut werden. Weil der Versuch, Europa von „oben zu bauen“, an seine Grenzen gestoßen ist, muss nun europäische Dynamik von dort „unten“ kommen, wo Überschaubarkeit und Solidarität Teil der Menschennatur ist.
  3. Europa muss sich dem Menschlichen Maß verpflichten.Denn wo gute Ideen ins Maßlose ausgedehnt werden, entstehen daraus Ideologien – wie zuletzt die Ideologie der Klima-Panik – und wenig später fundamentalistische Ersatzreligionen, die den freien Diskurs abschaffen.

Im Einzelnen sind diese Leitsätze in zehn Themenbereichen umzusetzen:

 I Zur Diskursfreiheit:

(1)Auf zu einem geistigen Kassasturz! Die beschriebenen Schwächen im rationalistischen Menschenbild der Aufklärung müssen nicht nur anerkannt, sondern – umgekehrt! –  als Stärken einer europäischen Identität gesehen werden. Das gilt besonders für die an Überschaubarkeit gebundenen Fähigkeiten zu optimaler Erkenntnis und Solidarität. Es wird hier kein Neustart verlangt, sowohl die Werte der Aufklärung als auch die politischen Erfahrungen Europas aus dem trotz vieler Rückschläge gelungenen, friedlichen und befruchtenden Zusammenleben   stellen unverzichtbares geistiges Kapital dar. Die Pflege dieses Kapitals sowie die Umsetzung dessen, was als neue Stärke gelten soll, setzen jedoch die Sicherung der Diskurs- und Dialogfähigkeit des mündigen Bürgers voraus, und das ist nicht zuletzt eine Bildungsfrage. Erste Stufe auf diesem Weg wäre Klarheit über verwaschene Begriffe – was meint man etwa mit Gerechtigkeit und Gleichheit oder bedeutet heute Identität und Faschismus. Nicht minder wichtig ist die Überwindung des materialistischen bzw. anti-religiösen Bias/Ressentiments in Wissenschaft und Medien. Dazu gehört u.a. die Pflege der judeo-christlichen Basis der Aufklärung in einer auch für Agnostiker und aufgeklärte Moslems nachvollziehbaren Weise.[vii]Ein heute besonders aktueller Teil davon wäre das baldige Ende der akademischen Selbstkastrierung mit dem Messer der political correctness. (zB Lothar Höbelt, Alice Schwarzer)

(2) Die Risiken der Informationstechnologie erkennen!Dem Schutz unserer Jugend vor der um sich greifenden Verblödung durch verfrühte Nutzung der IT gebührt größte Aufmerksamkeit – wie auch mehr Selbstbewusstsein gegenüber den Allmachtsphantasien entwickelt werden muss, die mit künstlicher Intelligenz verbunden sind. Unabdingbar ist der Schutz vor der totale Überwachungsstaat chinesischer Prägung und vor ähnlichen Exzessen der Kraken im Silicon Valley, vor allem wo diese unsere Aufmerksamkeitsfähigkeit durch aggressive Werbung manipulieren. Und nicht zuletzt geht es auch um die Bekämpfung des Wildwuchses in den sozialen Medien, wo im Schutz der Anonymität   fake newsund shit-stormsblühen.

  II Zu Europa „von unten“:

 (3) Vorrang für Regionen!Leopold Kohr hat schon 1941 gewarnt[viii], dass Europas große Nationalstaaten sich stets der Illusion hingeben werden, groß genug zu sein, um Europa allein führen zu können; tatsächlich jedoch scheitern sie daran, lähmen damit Europas Integration. Europas gestaltende Kraft muss daher aus den Regionen kommen, die um ihre Kleinheit wissen und daher auch zu europäischer Solidarität bereit sind. So können auch nur die Regionen Europa von der Macht- zur Leuchtturmpolitik tragen. Wie schon ausgeführt, liegt Europas Zukunft darin, vom Rest der Welt als ein dem gegenseitigen Nutzen verschriebener Leuchtturm der Kreativität respektiert zu werden. Denn: weil keine andere Weltgegend eine derart dichte kulturelle Vielfalt auf engstem, geografisch stark differenziertem Raum besitzt; und weil hier auch ein Höchstmaß an globalem Problembewusstsein herrscht; ist die für einen solchen Leuchtturm notwendige Kreativität und Energie in eben in diesen überschaubaren, historisch gewachsenen Regionen zu finden. Als Ausdruck demokratischer bottom-up-Haltung sollte jede Region daher neben weitestgehender Selbstverwaltung auch das psychologisch wertvolle iSezessionsrecht erhalten und Europa sich  analog zur Schweizerischen Eidgenossenschaft in einer Europäische Konföderation entwickeln. Diese kann dann nach außen sehr selbstbewusst auftreten.[ix]

 (4) Kultureller Gemeinsinn Europa kann nicht nur mit Gesetzen gebaut werden! Eine der Säulen jenseits des Rechtes ist der kulturelle Gemeinsinn. Nicht nur, dass dieser (nach dem Böckenförde-Diktum) erst die Voraussetzung für ein liberales Staatswesens schafft. Mit seinen elastischen Begriffen (auch „hohe Ambiguitäts-Toleranz“[x]genannt, wie bei „Schönheit“ und „Anstand“) sowie der Frage „gehörst Du zu uns?“als einziger Sanktionsmöglichkeit kann er die Polarisierung überwinden, die zwischen der Zwangsgewalt von gesetztem Recht und chaotischer Beliebigkeit entstanden ist; er verhindert dadurch mit soft powerüberschießende Gesetzgebung und Bürokratismus; er erlaubt die Differenzierung der Regionen nach außen; und durch seine Ausrichtung an kulturellen Gemeinsamkeiten im Inneren fördert er die Integration von Immigranten.[xi]

(5) Zivilgesellschaft Eine andere Säule sind NGOs der Zivilgesellschaft, die im Inneren demokratisch verfasst sind und jeweils auf regionaler, staatlicher und europäischer Ebene aktiv sind: Weil sie auf ihren Sachgebieten einen vollen, alle Ebenen umfassenden Überblick haben, können sie in Bereichen, die außerhalb des Hoheitsrechtes liegen, viele Vorteile der Ganzheitlichkeit überschaubarer Regionen „quasi-holistisch“ auch auf höherer staatlicher oder europäischer Ebenen einbringen [xii].

(6) Die Sandwich-Stellung der Nationalstaaten verbessern! Tatsächlich sind sie für viele Probleme zu groß und für einige wenige zu klein geworden. Um effizient zu bleiben, sollten sie möglichst bald Kompetenzen an ihre Regionen abgeben, aber andererseits auch an eine europäische Ebene. Diese braucht verbesserte Handlungsfähigkeit, besonders in den Außenbeziehungen, was wohl eine Stärkung der parlamentarischen Ebene erfordert. Das richtet sich vor allem gegen große Nationalstaaten und ihre Lust an egoistischen Blockierungen von „mehr Europa“, doch sollten auch die Regionen nicht zu groß sein – Leopold Kohr sah die Idealgröße eines staatlichen Gebildes schon bei einer halben Million, die Höchstgrenze bei zehn Millionen Einwohnern![xiii]Freilich, im Europa-Kontext bleiben nationale Regierungen schon deshalb weiterhin  unersetzlich, weil die Anzahl von Mitgliedern der Minister- und ähnlicher Räte im Interesse ihrer Effizienz  begrenzt bleiben muss, nicht jede der möglicherweise weit über hundert Regionen dort direkt vertreten sein kann. Nationale Regierungen könnten hier eine neue Rolle übernehmen, indem sie sich mehr und mehr zu ehrlichen Maklern zwischen den Regionen und der europäischen Ebene entwickeln: Durchaus im Einklang mit bestehendem EU-Recht könnten nationale Regierungen nicht nur als Vertreter der eigenen, sondern auch je nach Sachgebiet auch für fremde Regionen auftreten, wo diese ihnen die Durchsetzung ihrer besonderen Interessen eher zutrauen – natürlich in Verbindung mit einer flexiblen Stimmrechts-Gewichtung. Es wäre dies ein Mittel, um aus dem für die bottom-up-Haltung notwendigen Selbstbestimmungsrecht der Regionen eine psychologisch wichtige Materie zu machen, auch wenn sie tatsächlich nur selten praktiziert werden dürfte – so wie heute schon in Liechtenstein jede Gemeinde laut Staatsverfassung das volle Sezessionsrecht hat, es aber wohl nie beanspruchen wird. [xiv]

III. Zum Menschlichen Maß:

(7) Vorrang für Resilienz, also die ganzheitliche Fähigkeit zu Selbstbehauptung!Selbst ohne Krieg ist sehr wahrscheinlich, dass Europa mit seiner immer komplexer werdenden – und damit auch verletzlichen – Technologie von Katastrophen wie längeren und großflächigen Blackouts getroffen wird. Jeder Haushalt sollte mindestens eine gute Woche ohne Strom, Handy und Wasser auskommen können! Denn das ständige und linear betriebene Effizienzstreben produziert immer schrecklichere Nebenwirkungen und muss durch das mindestens gleichwertige Resilienz-Prinzip relativiert werden: Ohne Effizienz verhungern wir, aber ohne Resilienz fährt uns die Effizienz gegen die Wand.

(8) Nachhaltigkeit in allen Dingen!Das betrifft nicht nur den schonenden Umgang mit natürlichen Ressourcen bis hin zu der gewinnbringenden (!) Versöhnung einer blühenden Wirtschaft mit Klima- und Umweltschutz; sonder auch die Balance zwischen immateriellen Dingen: seien es die Spannungsverhältnisse zwischen öffentlicher Sicherheit und Menschenrechten, von Toleranz und Identität; oder sei es die demographische Verantwortung von Mensch und Gesellschaft.

(9) Globalisierung in Maßen!In der globalisierten Wirtschaft erleben wir ständig Exzesse/Auswüchse der Arbeitsteilung. Anzustreben ist die umfassende Grundversorgung der Menschen aus ihrer jeweiligen Region heraus; während alles, was darüber hinaus geht, dem weltweiten Wettbewerb zu überlassen wäre. So gehört schon wegen unausweichlicher Katastrophen als Folgen der Klimakrise, denen nur de-zentral begegnet werden kann, die  Primär-Kompetenz von Landwirtschaft, Energie und Grundschul-Bildung in die Regionen! [xv]

(10) Zurück zu einer stabilen Währung!Der Mensch braucht auch für materielle Dinge einen verlässlichen Maßstab ihres Wertes. Überdies scheint es Teil der Menschennatur zu sein, sich in überschaubaren Zeiträumen ein Eigenheim und die eigene Alterssicherung schaffen zu wollen, was neben einer stabilen Währung auch Zinsen als Belohnung für deKonsumverzicht voraussetzt. Mit dem heutigen „Fiatgeld“ ist das nicht mehr möglich; wie es der im Ersten Weltkrieg aufgegebene Goldstandard war, sollte eine stabile Währung daher frei von hoheitsrechtlichen Manipulationen sein,.[xvi]

Schlussbemerkungen

Die überfällige Korrektur des Menschenbildes soll also die Vorteile des überschaubaren Raumes erkennbar und damit auch nutzbar machen: Sinkt doch jenseits seiner Grenzen sowohl die Erkenntnisfähigkeit – wozu das spontane Verständnis immer komplexer werdender Probleme gehört –  als auch die Bereitschaft zu Kooperation und Solidarität. Das hier skizzierte Europa-Konzept hat daher weniger Ähnlichkeiten mit den aktuellen Regierungsmodellen echter oder vermeintlicher Groß- und Supermächte als mit dem 1806 aufgelösten Heiligen Römischen Reich (das erst die Kultur der Deutsche Klassik ermöglicht hat – ähnlich den Stadtstaaten im mittelalterlichen Ober-Italien und dem antiken Griechenland). Im Prinzip kommt es dem Modell der kleinen Schweiz sehr nahe. Man kann es auch als optimale Verbindung von Personalität, Solidarität und Subsidiarität sehen – nicht zufällig sind das auch die drei Säulen der katholischen Soziallehre.

Seine Umsetzung erfordert radikales Umdenken. Bis vor kurzem war nicht zu erwarten, dass ein solcher geistiger Wiederaufbau Europas rasch und top downerfolgt, zu stark ist die Versuchung der Nationalstaaten in der heutigen EU, ihre überragende verfassungsrechtliche Stellung zu bewahren. Wir werden aber aus dem Zusammentreffen von immer höherer Verletzlichkeit unserer Zivilisation – Stichwort Corona-Krise – und immer ärgerem Zuschlagen von Klima-Katastrophen schon sehr bald radikale Umbrüche erleben, die mit Zentralismus und Globalisierung nicht beherrscht werden können. Rettung durch Umsetzung des neuen Menschenbildes kann da nur „von unten nach oben“ erfolgen, liegt somit bei den Bürgern Europas. Ganz nach Erich Kästners „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es“kann jeder von uns dazu wichtige Beiträge leisten,

– indem er/sie bei jedem politischen Vorhaben fragt, ob es „menschengerecht“ ist;

– indem er/sie sich nachbarschaftlich und zivilgesellschaftlich engagiert und damit den Macht-Anspruch der „von oben“ kommenden Autorität widerlegt.  Das kann sehr bescheiden beginnen, etwa idem man versucht, außerhalb der Familie jeden Tag drei Menschen ein ehrliches Kompliment zu machen. Das würde uns nämlich empathisch erscheinen lassen; und wie schon ausgeführt, sollte ein solcher Ruf einen  Schneeballeffekt der Solidarität auslösen.

Nachtrag: Wie lange hält das Phänomen der neuen Re-Nationalisierung?

Ostern 2020 stand ganz im Zeichen der Coronakrise. Sie hat uns das Gefühl der Nähe wiederentdecken lassen und bestärkt damit sowohl die neue Sicht auf das Menschenbild als auch die daraus folgende Betonung des Resilienz-Prinzips.  Allerdings droht die politische Umsetzung meiner Thesen durch den nun  offenkundigen Prozess der Rückkehr zum Nationalstaat verhindert zu werden. Denn  die gesamt-europäische Willensbildung verläuft enttäuschend, und obwohl lokale Solidarität geradezu unglaublichen Zuspruch erfährt, ist unterhalb der Nationalstaaten von einem politischen Regionalismus so gut wie nichts zu spüren.

Der Grund für den Rückgriff auf den Nationalstaat liegt wohl darin, dass er als einzige Institution in der aktuellen Ausnahmesituation, in der der Planungshorizont radikal verkürzt wird,  wirkungsvoll handeln kann. Das ist nichts Neues, denn schon in der Verfassung des alten republikanischen Rom konnte der Senat in Krisenzeiten einem Diktator uneingeschränkte Macht einräumen – aber eben nur für die Dauer eines halben Jahres. Diese zeitliche Beschränkung hat ihre guten Gründe: In einer mittel- oder langfristigen Perspektive verfestigen sich die unvermeidlichen, anfangs noch kleinen Fehler der Diktatoren; und wird es immer wichtiger, in einem freien Diskurs das Für und Wider verschiedener Handlungsoptionen abzuwägen.

Und so wird der Nationalstaat einerseits auf gesamt-europäischen Ebene noch immer zu Selbst-Überschätzung neigen und sich nicht wie die Regionen schwach genug fühlen, um sich einer europäischen Institution voll unterzuordnen. Im Vergleich zu den Regionen wird ihm andererseits weiterhin die Überschaubarkeit als Voraussetzung für einen an die Wurzeln gehenden Diskurs fehlen.

In der Geschichte hat es immer wieder „reaktionäre“ Restaurationsversuche gegeben, also das Bestreben zu alten Erfolgsmodellen der Politik  zurückzukehren, die sich im Zuge einer Krise nicht bewähren konnten. Diese Restaurationen sind aber regelmäßig gescheitert, so lange nicht auch die Gründe eingearbeitet wurden, die diese Erfolgsmodelle in die Krise geraten ließen.  Das trifft auch auf die neue Re-Nationalisierung zu: Wie es der Begriff der „Glokalisierung“  ausdrückt, sind vor allem große Nationalstaaten seit Beginn der Globalisierung in eine Zwickmühle geraten; sind sie doch für nicht wenige Europa-weite und globale Probleme zu klein geworden, für andere wiederum –  etwa solche des Standorts oder der kulturellen Identität – zu groß.

An diesem Befund hat die Coronakrise nichts geändert. Vergessen wir also nicht auf Europa und vertrauen wir dem neuen Menschenbild und seinem Resilienz-Gedanken!

Quellen:

*)Stand 14.3.2020

[1]Zum Verständnis: Unsere Erkenntnisfähigkeit folgt zunächst den zwei Informationssystemen, die uns die biologische Evolution gegeben hat. Zu einen ist es das evolutionsmäßig junge,  Wort-für-Wort – also digital – ablaufende sprachliche Denken; und zum anderen das  wesentlich ältere, bildhaft-analoge Denken, das der ganzheitlichen Absicherung dient, indem es unbewusst alle über die Sinne laufend hereinkommen Wahrnehmungen auswertet und dem Bewusstsein nur das Wichtigste meldet. Ihr Zusammenspiel gleicht einem klassisches Einbrecher-Duo: während der Wächter Schmiere steht, kann sich der Spezialist auf Türschlösser und Mauersafes konzentrieren.[1]Das sprachliche System ermöglicht zwar den Höhenflug der Vernunft, hat aber eine extreme niedrige Kapazität der Informationsauflösung; das zwingt zu Abstraktionen der Realität – ein durchaus riskantes Vorgehen, wenn wegabstrahierte Dinge später wieder schlagend werden. Das bildhafte System des „Wächters“ kann zwar mit seiner millionenfach höheren Auflösungskapazität ausgleichend wirken, ist aber örtlich begrenzt: Projektionen über den “Gesichtskreis” hinaus sind zwar möglich, ihre Zuverlässigkeit wird aber mit wachsender Entfernung rasch schwächer und reißt schließlich ganz ab. Hilfe bei der Absicherung von Abstraktionen erhält man jedoch auch, wie erwähnt, aus dem Sozialen Raum. Seine Zuverlässigkeit hängt freilich davon ab, dass die Beziehungen innerhalb eines typischerweise einige dutzend Menschen umfassenden Personenkreises nicht nur dicht sondern auch für die gesamte Breite der jeweils behandelten Themen repräsentativ sind. Beide Voraussetzungen werden in der Regel nur in der „Dörflichkeit“ überschaubarer Räume gegeben sein  – vor allem in überregionalen Räumen werden also fehlerhafte Abstraktionen nur schwer erkannt werden.

[i]Viktor E. Frankl, „Der Wille zum Sinn“, Bern 1972, Verlag Hans Huber
[ii]Patrick J. Deneen “Warum der Liberalismus gescheitert ist”, Orig. 2018 New Haven, Yale University Press
[iii]Michael Breisky, „Menschliches Maß gegen Gier und Hass – small is beautiful im 21. Jahrhundert“, Wien 2018, bei Frank & Frei; Kapitel „Die Krücken der Vernunft“.
[iv]Martin A. Novak, „Kooperative Intelligenz- Das Erfolgsgeheimnis der Intelligenz“, München 2013 C.H.Beck; Orginal: „Super Cooperators, Altruism, Evolution and why we need each other to succeed“, New York 2011, Free Press
[v]Leopold Kohr, „Das Ende der Großen. Zurück zum menschlichen Maß“, Salzburg 2002, Otto Müller Verlag
[vi]  Hans Jonas, „das Prinzip Verantwortung“, 1979 /Suhrkamp TB 2003
[vii]vgl. Rabbi Jonathan Sacks, Reflections on  ‚The Strange Death of Europe‘, https://www.youtube.com/watch?v=BY6UY2tn5Os
[viii]Leopold Kohr, Artikel „Disunion Now“ in Zeitschrift „Commonweal“, September 1941, New York, zitiert in Michael Breisky, „Groß ist ungeschickt- leopold Kohr im Zeitalter der Postglobalisierung“, Wien 2010, Passagnverlag
[ix]etwa gemäß Confoederatio Europea (CE), https://iem-europe.com/attachments/58/1537354178/
[x]Thomas Bauer,Essay Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, 2018 Reclam Verlag
[xi]Michael Breisky, Essay„Böckenförde revisited: Gesetz und Gemeinsinn ergänzen sich wie hard powerund soft power“,www.breisky.at.
[xii]Michael Breisky, „Menschliches Maß gegen Gier und Hass“ a.a.O; Kapitel „Nationalstaat und Zivilgesellschaft zwischen global und lokal – die zwei Säulen der Politik“
[xiii]Leopold Kohr, „Die überentwickelten Nationen“, Salzburg 2003i, Otto Müller Verlag
[xiv]Michael Breisky, Artikel „Wie sich Regionen mehr Gehör verschaffen könnten“ in „Die Presse“, Wien 16.11.2019
[xv]Michael Breisky, „Menschliches Maß gegen Gier und Hass“ a.a.O; Kapitel „Halbzeit“
[xvi]Saiffedean Ammous, „The Bitcoin Standard – the decentralized alternative to central banking“, Hoboken 2018, bei John Wiley & Sons