1999: Anmerkungen zu Leopold Kohr: Neue Argumente für die Lehre von den kleinen Einheiten

Vortrag von Michael Breisky bei der Internationalen Fachtagung der bayrischen Akademie Ländlicher Raum e.V., in Zusammenarbeit mit der Leopold-Kohr-Akademie, Neukirchen und der Kulturellen Sonderprojekte, Salzburg

Neukirchen am Großvenediger, Oktober 1999

Grüß Gott! Sie werden sich vielleicht wundern, was ein Diplomat bei einer Veranstaltung für Leopold Kohr und den ländlichen Raum macht? Dazu zwei Annäherungsversuche:

Ich hatte mit der Vorbereitung des vorletzten Papstbesuchs in Österreich zu tun, und da war für Salzburg Prälat Dr. Neuhardt zuständig. Da ich seinerzeit in Salzburg in die Schule gegangen bin, habe ich ihn gefragt, ob ihm mein Religionsprofessor vom Bundesgymnasium, Johannes Chrysostomos Spatzenegger, noch ein Begriff ist-, und er meinte, ja natürlich, denn die Welt teile sich ja bekanntlich ein in zwei annähernd gleich große Teile: der nur wenig kleinere, der Spatzenegger zum Religionsprofessor gehabt hat; und der andere, etwasgrößere, der dafür viel weniger bedeutend sei. Das
hat mich riesig gefreut und damit komme ich zu Leopold Kohr, hat er doch ein Jahr nach meinem Vater in derselben Schule maturiert, und schon mein Vater hatte  – wie auch Kohr -Spatzenegger zum Religionsprofessor gehabt. So sehe ich mich also mit ihm in elitärer Bedeutung verbunden.

Der zweite Annäherungsversuch ist vielleicht etwas konziser: Wir Diplomaten sind bekanntlich keine Experten, sondern Generalisten. Das heißt, wir müssen über nichts eine ordentliche Kenntnis haben – aber auf Niveau wollen wir auf wirklich allen Gebieten mitreden. In diesem Sinne habe ich mich auf der Sänger- und Denkerinsel Irland sehr mit Leoold Kohr befasst, und das folgende sind jetzt einige Anmerkungen dazu. Denn es sind in den letzten Jahren einige Entwicklungen eingetreten, die neue Argumente für Leopolds Kohrs Lehre von den kleinen Einheiten geben.

Ich möchte mich hier auf zwei Bereiche konzentrieren. Der eine ist der, was ich die „hirn-physiologische Barriere der Globalisierung“ nennen möchte. Und der zweite, wenn ich hier noch Zeit dazu habe, wären Einsichten aus der System- und Informationstheorie, die vor allem gegen Größe und Schnelligkeit sprechen. Nun, also, zur hirnphysiologischen Barriere. Was sich seit Kohr wohl am meisten geändert hat, ist die gewaltig anschwellende Flut an Informationen, die täglich über Medien,
Reklame und nun auch das Internet auf uns einstürzt. Sie lässt uns die begrenzte Kapazität unseres Gehirns fühlen. Und dort löst sie das Phänomen des „Data- oder Informations-Over-Flow“ aus. Was ist das nun? Dazu möchte ich auf einige Fakten zurückkommen, die Hoimar von Ditfurth schon 1980 sehr plastisch in seinem Buch
„Der Geist fiel nicht vom Himmel“ dargelegt hat: Da wäre zunächst einmal das Sparsamkeitsprinzip in der Natur zu nennen. Die Fähigkeit zu einer realistischen Wahrnehmung der Außenwelt, ja jeder Form der Erkenntnis, war in der biologischen Evolution niemals Selbstzweck, sie war stets nur Mittel zum Zweck der Überlebenssicherung. Alles was über biologische Überlebenssicherung hinausgeht, ist Während Luxus, weil es notwendigerweise diesem Sparsamkeitsprinzip zuwider läuft. Wir können daher beispielsweise zwar Licht und

Schallwellen wahrnehmen, aber nur in einem ganz kleinen Frequenzbereich. Was wir davon nicht wahrnehmen, ist trotzdem real vorhanden; genauso real wie die radioaktive Strahlung, für die wir überhaupt kein Sinnesorgan besitzen. Das gleiche Prinzip erklärt auch, warum unsere Sinne vorzugsweise Unterschiede und Veränderungen in der Außenwelt wahrnehmen, bis hin zum berühmten Splitter im Auge des Anderen, und sehr zu Lasten von Selbstverständlichkeiten.

Das zweite Element, das Hoimar von Ditfurth angeschnitten hat, sind die Grenzen der Wahrnehmung und unseres Bewusstseins. Das sind nicht nur Grenzen, die sich aus der Gesamtkapazität unseres Gehirns ergeben, sondern auch aus der Teilung in die Ebenen des Ganzheitlich/Bildhaften und des Abstrakt/Sprachlichen, und vor allem auch aus der Interaktion zwischen den beiden Ebenen, die in einer ganz bestimmten Verhältnismäßigkeit gebunden ist.
Nun, das Ganzheitlich-Bildhafte dient der Auswertung der Sinneswahrnehmungen, die kontinuierlich als Nervenimpulse hereinkommen, und vor allem der Siebung dieser Impulse. Das sind zunächst bis zu einigen Milliarden Bit pro Sekunde, etwa beim bewegten Bild, und das wird alles im Zwischenhirn verknüpft und von dort in einigen wenigen Signalen an das Großhirn weitergegeben. Die zweite Ebene siedelt im Großhirn, das evolutionsmäßig sehr jung ist, und soll die konzentrierte Beschäftigung mit jeweils einer Aufgabe ermöglichen. Es ist das Instrument der Vernunft und wie ein Computer digital organisiert, das heißt es arbeitet in Schritt-für-Schritt-Folgen. Die Frage der dort, also im Großhirn, vernunftmäßig zu verarbeitenden Datenmenge war für unsere Vorfahren weniger wichtig und liegt daher auch heute noch bei ganz kümmerlichen 15 Bit pro Sekunde – die zwei Ebenen verhalten sich also wie Milliarden gegen ein Dutzend. Auch hat es früher nichts ausgemacht, dass diese Denkebene wesentlich energieaufwendiger ist als die Bildhafte; das heißt, dass wir viel mehr Neugier verbrauchen.

Im Zusammenspiel – und das, glaube ich, ist ein sehr plastisches Beispiel – gleichen beide Ebenen einem Einbrecherduo: Während sich der eine konzentriert mit Türschlössern und Mauersafes beschäftigt, steht der andere Schmiere und passt „ganzheitlich“ auf.
Nun haben v. Ditfurth gewisse Fakten, vor allem das Altertümliche an unserem Erkenntnisapparat, interessiert: Wenn alle Wahrnehmungen über das Sieb des altmodischen Zwischenhirns laufen, dann kann dieser „Umfeld-Filter“ im Kopf wohl kaum auf der Höhe der Zeit stehen. Mich beschäftigt da etwas anderes, und zwar kann unsere Vernunft offenbar nur unter zwei Annahmen richtig funktionieren: Die eine ist, dass wir unser Umfeld im Wege der Sprache so richtig abstrahiert bzw. kondensiert haben, dass unsere sprachlichen Begriffe die Umwelt richtig erfassen. Das heißt sachlich korrekt und – dem Sparsamkeitsprinzip folgend – ohne den Ballast von Selbstverständlichkeiten. Und die zweite Annahme richtiger
Argumentation ist, dass nicht vom Bildhaften her eine Störungsmeldung hereinkommt, die sagt, dass sich an den beiseite gelegten Selbstverständlichkeiten etwas geändert hat. Ich glaube, dass in allen politischen Streitdiskussionen, die ich ja beruflich ständig verfolge, die Leute nur zu einem Prozent unvernünftig argumentieren; und zu 99% „nur“ das Umfeld des diskutierten Problems in ihren Begriffen unvollständig hereinbekommen haben und/oder Störungsmeldungen über Selbstverständlichkeiten nicht wahrnehmen.

Nun, das ist schon in den heutigen Diskussionen angeklungen: Geographische Distanz fördert die Irrtumsanfälligkeit über den „Umfeldschwund“, der dann auf der Ebene des Ganzheitlich/Bildhaften eintritt. Wir brauchen die Interaktion beider Ebenen. Denn jetzt im digitalen Zeitalter, da muss die Informationsflut, die über weite Entfernungen zu uns herein kommt, im abstrakt/sprachlichen Denken praktisch ungefiltert verarbeitet werden. Das hat nicht nur zur Konsequenz, dass dort bald die Kapazitätsgrenze überschritten wird. Es kann dann – entfernungs-bedingt – auch vom ganzheitlich/bildhaften Denken und seiner Auswertung im Zwischenhirn keine Störungsmeldung mehr hereinkommen; denn dieser „Umweltfilter“ reagiert eben nur auf das, was wir mit unseren Sinnen unmittelbar wahrnehmen. Kurz, wir können nie wissen, ob unsere „vernünftige“ Diskussion auch realistisch ist, weil wir das Schweigen des ganzheitlichen Aufpassers in unserem Kopf nicht richtig beurteilen können. Schweigt dieser Aufpasser, weil er etwas für harmlos oder selbstverständlich hält, oder weil selbst ihm dieses Etwas entgangen ist? Aufpasser arbeiten ja notwendigerweise ganzheitlich. Und weil sie von den Sinneswahrnehmungen abhängen, können wir auch nur „überschaubare Größen“ „im Auge behalten“, wie schon diese sprachlichen Formulierungen ausdrücken. Mit anderen Worten: je mehr wir außerhalb unseres engen geographischen Umfelds Wirkungen erzielen wollen, desto leichter verfallen wir einem Irrtum. Dieses Dilemma lässt sich heute selbst mit Computer allergrößter Kapazität nicht lösen, weil sie alle digital organisiert sind; irgendwo muss ein Mensch stehen, der notfalls in der Lage ist, ganzheitliche Eindrücke mit seinem praktischen Hausverstand zu verknüpfen und korrigierend einzugreifen.

Herr Präsident, Sie haben gestern gefragt, wie man die Schlagworte digital und analog einfach darstellen kann. Ich möchte dazu sagen, fragen Sie einfach den größten Computer der Welt nach der Telefonnummer von Christoph Kolumbus! Er wird alle Telefonbücher der Welt durchstöbern müssen, mit seiner Milliarden KB-Kapazität kein Problem; dann wird er sagen, er findet es nicht, behält sich aber eine abschließende Meldung bis zur Digitalisierung des Telephonbuchs der Äußeren
Mongolei vor. Und der analog denkende Volksschüler wird sagen, „das ist eine blöde Frage, zur Zeit von Kolumbus hat es kein Telefon gegeben“. Sie sehen also, dass über ein digitales Welt-Verständnis keine Autoritätskritik möglich ist, und neben vielen anderen Dingen auch kein Humor. Und das ist nicht nur ein Argument für das ganzheitlich-bildhafte Denken, sondern auch für die kleinen Kreise Leopold Kohrs. Denn bis zu dem Tag, an dem jedermann über einen Analog-Computer verfügt – der meines Wissens noch nicht einmal im Prototyp existiert – werden wir wegen der notwendigen Überschaubarkeit seine kleinen Kreise brauchen. Neben diesem digitalen Dilemma der Globalisierung gibt es noch eine zweite Barriere in unserem Kopf, die sich aus dem „Informations-Over-Flow ergibt: Weil die moderne Informationsflut vom sprachlich-abstrakten Denken verarbeitet werden muss, wird dort, wie schon gesagt, auch unverhältnismäßig viel Energie verbraucht. Unser Vorrat an Neugier ist aber bald verbraucht, und es tritt dann das bekannte Phänomen der Apathie ein. Dies wäre die quantitative Ursache der Erschöpfung, aber es gibt für Apathie auch eine qualitative Ursache: Der allgegenwärtige Pluralismus der Werte und der kulturellen Muster, wie wir sie heute haben, verlangt im Gegensatz zu den einfacher gestrickten Verhältnissen früherer Generationen von jeden von uns ein Vielfaches an Auseinandersetzung, also an bewusster sprachlich/abstrakter Denkarbeit, und dies kostet eben mehr Energie und Kapazität. Kurz gesagt, Toleranz ist anstrengend. Aber ist schon das apathische „ausgebrannt-Sein“ schlimm, so wird es kritisch, sobald mentale Erschöpfung in unsinnigen Radikalismus umspringt. Denn wie bei einem guten Computer, der für den Fall des „Data-Over-Flow“ ein Notprogramm zur reinen Systemerhaltung installiert hat, reagiert der Mensch bei mentaler

Überforderung nicht mehr nach den Prioritäten des sprachlich/abstrakten Denkens, sondern nach den biologischen Prioritäten der Zeit vor „Erfindung“ des bewussten Denkens. Das heißt, er reagiert nach den biologischen Urfunktionen, im Englischen sind es die „Four F’s“ nämlich FEED – FIGHT – FLIGHT und  FUCK.

Nun zu den Folgen, was heißt das kulturell? „Informations-Over-Flow“ mit länger anhaltender Apathie hindert uns daran, die laufenden Veränderungen der kulturellen Außenwelt so zu interpretieren, dass sie mit unserem eigenen Selbstbewusstsein vereinbar werden. Wo diese Denkarbeit nicht gelingt, leiden wir unter Realitäts- und/oder Identitätsverlust. Und sobald uns jemand mit einer sichtbar fremden Identität dieses Manko Augen führt, reagieren wir biologisch. Wie Peter Berger vor einigen Jahren bei den Salzburger Humanismus -Gesprächen dargelegt hat, neigen wir dann zu fliehen oder aggressiv zu werden, weil wir das Fremde als Bedrohung empfinden. Womit das aktuelle Thema der Fremdenfeindlichkeit eine überraschende Erklärung findet: Der Identitätsverlust und das Gefühl der Bedrohung kommt letztlich nicht von der Anzahl der Fremden in unserer Umgebung, sondern von der allgemeinen kulturellen Überforderung. Womit die üblichen Appelle zu einem rein ethischen Wohlverhalten sich als völlig unzureichend erweisen.

Und was heißt das nun politisch? Nur in überschaubaren kleinen Einheiten – in Familien, Gemeinden und besonders in überschaubaren Netzwerk des ländlichen Raums – werden wir unser ganzheitliches Denken wieder stärker einbringen können. Nur dort wo das politische Schwergewicht in solchen Strukturen liegt, werden wir politische Partner finden, die uns als ganzen Menschen behandeln – und nicht nur in einer abstrakten Funktion als Konsument, Arbeitnehmer, Tourist oder Versorgungsfall; nur so werden wir uns durch laufende Interaktion besser vor Irrtümern bewahren können. Und nur in diesen kleinen Kreisen, wo das ständige Überprüfen von Selbstverständlichkeiten mit ganzheitlichen Sinneswahrnehmungen nahezu automatisch erfolgt, werden wir auch genug Neugier und genug Denkkapazitäten sprachlich abstrakter Art abzweigen können, um den heute unverzichtbaren, aber auch unvermeidbaren kulturellen Pluralismus bewältigen zu können.

Als Beweis für diese These möchte ich die Beobachtung anführen, dass die kleinen österreichischen Landgemeinden in den letzten Jahren perzentuell gesehen weit mehr jugoslawische Flüchtlinge erfolgreich integriert haben, als die Großstädte. Wer diese Zusammenhänge nicht sehen will, darf sich nicht wundern,

+ wenn er einer Welt, wo es weder im Kopf noch im sozialen Umfeld Aufpasser gibt, nämlich im Internet, wenn dort die Anzahl der Kinderpornographen zunimmt und isolierte Anarcho-Terroristen zu einander finden, wie in Oklahoma mit dem Resultat von 200 Toten.

+ Und wenn in einem modernen Staat mit sehr viel komplexer historischer Identität, mit viel Zentralismus und mit viel politisch vergeudeter Frustrations-Energie, wenn in einem solchen Staat schon eine eher durchschnittliche Anzahl von Ausländern zu erstaunlichen Wahlresultaten führt.

Ich komme nun zum zweiten Teil meiner Anmerkungen, die ich freilich aus Zeitgründen nur mehr sehr gekürzt wiedergeben kann: Eine der wohl aktuellsten Untersuchungen Leopold Kohrs ist der wirtschaftlichen Umlaufgeschwindigkeit gewidmet, wo er auf die besondere Ressourcenverschwendung der modernen Wirtschaft zu sprechen kommt und dies in Analogie zur Inflationstheorie mit Beschleunigungs-Effekten erklärt. Ich glaube, dass diese Überlegungen mit Erkenntnissen der Informations- und Systemtheorie weiter untermauert werden können. Zentral ist dabei das Problem der Größe eines Systems oder Körpers unter dem Gesichtspunkt neuer Herausforderungen: Die Neuartigkeit einer Herausforderung äußert sich ja darin, dass die gewohnten Informationsflüsse zwischen den vernetzten Teilen eines Körpers geändert werden müssen; der Körper soll also durch Herstellung neuer Rückkoppelungsschleifen reagieren. Er kann dabei umso besser reagieren, je besser seine Teile miteinander kommunizieren, also je dichter das Netz geknüpft ist. Dies hieße zunächst, je mehr sich die neuen Rückkoppelungsschleifen auf bereits bestehende Verbindungswege stützen können, desto besser. Im Idealfall würden zwischen allen Teilen Direktverbindungen bestehen, um gegebenenfalls alle Variationen von direkten Rückkoppelungen durchspielen zu können. Aber nicht nur die tatsächliche Nutzung einer Verbindung, schon ihre Bereitstellung für einen späteren Anlassfall verursacht Aufwand; und in einem System steigt die Zahl der theoretisch möglichen Direktverbindungen ja überproportional zur Zahl seiner Teile – genau genommen: die Anzahl solcher Verbindungen gleicht der Zahlensumme aller denkbaren Ansprechpartner eines Systemmitglieds. Systeme, die neuen Herausforderungen gewachsen sein wollen, müssen daher entweder möglichst klein sein – oder sich im Interesse des sparsamen Umgangs mit Energie und Struktur in der Anzahl direkter Verbindungen einschränken – am besten dort, wo ihre tatsächliche Inanspruchnahme am wenigsten zu erwarten ist. Also: Größe zwingt zu selektiver Vernetzung, und diese Selektion kann v nur so gut sein, wie eine auf die Zukunft abgeschlossene Wette.

Ein weiteres Element ist die Reaktionsgeschwindigkeit eines Systems, die grundsätzlich nicht von der objektiven Dringlichkeit der Herausforderung sondern von der inneren Konstitution des Systems abhängt, das heißt also von seinem Organisationsmuster. Von dieser Seite her sind selbst hierarchische Gliederungen und Teil-Selbstständigkeit eines Systems kein Universalheilmittel zur Überwindung der Nachteile von Größe, so sehr sie sonst dem Erfordernis der Flexibilität dienen mögen; denn auch die kürzeren Reaktionszeiten einzelner System-Teile oder -Ebenen nützen wenig, wenn die Reaktionen hintereinander ablaufen. Kurz gesagt: Nicht nur bei zunehmender Eigengeschwindigkeit, wie es Leopold Rohr in seiner Beschleunigungstheorie dargestellt hat, sondern auch bei zunehmendem Zeitdruck der Außenwelt muss ein lebendiger Körper sein jeweiliges Organisationsmuster verbessern, um richtig reagieren zu können, und „richtig reagieren“ heißt dabei, um seinen flexibel Energie- bzw. Ressourcenverbrauch niedrig zu halten. „Groß ist halt ung’schickt“, wie schon Johann Nestroy festgestellt hat.

All diese Überlegungen möchte ich in einer „Theorie der Informations- dichte“ zusammenfassen:

1. Die Qualität des Organisationsmusters (Flexibilität bzw. hohe Informationsdichte) zeigt sich erst dann, wenn der Aufwand an Energie und anderen Ressourcen auch bei neuartigen Herausforderungen niedrig bleibt.

2. Nicht nur Beschleunigung, sondern auch zunehmende Größe verursachen bei gleichem Organisationsmuster deutlich überproportionalen Aufwand.

3. Körper, die in weitgehend selbstständige Kluster bzw. Sub-Systeme gegliedert sind, erweisen sich gegenüber einheitlichen Körpern als flexibler und sparsamer, sie unterliegen allerdings dem Risiko längerer Reaktionszeiten, je mehr und je schneller hierarchische Ebenen zu durchlaufen sind; die Nachteile der Größe sind also auch durch Unterteilung nicht restlos auszugleichen.

4. Die moderne Informationstechnologie schafft hier nur vordergründig Erleichterung. Zwar hilft sie großen Systemen, das Problem der selektiven Vernetzung abzuschwächen; doch fördert ihr lineares, auf der sprach]ich/abstrakten Denkebene ablaufende Arbeitsprinzip das vorhin beschriebene Phänomen des Umweltschwundes, also der Ignorierung lokaler Selbstverständlichkeiten. Überdies neigt die moderne Informationstechnologie ganz allgemein dazu, die Lernprozesse unter gefährlichen Zeitdruck zu setzen.

5. Daraus folgt schließlich, die Einheitlichkeit oder Größe eines Systems nur in
zwei Situationen sinnvoll sein kann: einerseits dort, wo ein Körper in „ruhender Starre“ auf Schnelligkeit und Flexibilität verzichten kann; und andererseits dort, wo die Schnelligkeit wichtiger ist als Flexibilität und Aufwand zusammen, wo also die „Wucht des Schmiedehammers“ gefragt ist.

In der heutigen Realität von Politik und Wirtschaft dürften beide Situationen weit seltener sein, als vulgär-rationalistische Vereinfacher weismachen wollen. Wollen wir überflüssigen Aufwand vermeiden und flexibel bleiben, dann werden wir daher vor allein das Verlangen nach ‚mehr Tempo“ kritisch untersuchen müssen. Oft genug zeigt sich dann reines Machtstreben, wenn Zentralisten sich an der „Umständlichkeit“ der Entscheidungsfindung in mehreren kleinen und autonomen Einheiten stoßen; sie handeln dabei kurzsichtig, denn

– Schnelligkeit fördert Einheitlichkeit und Größe, – Einheitlichkeit und Größe fördern Starrheit und Verschwendung,

– Starrheit und Verschwendung fördern Untergang.
Ein Haltung, die Schnelligkeit jenseits sportlicher Körperertüchtigung zum

Selbstzweck macht, wird damit auch sittlich bedenklich – womit ich zu meinem eingangs erwähnten Religionsprofessor Johannes Chrysostomos Spatzenegger zurückkomme: Ohne selbst schon „böse“ bzw. eine „Totsünde“ gemäß der katholischen Moraltheologie zu sein, könnte man diese Schnelligkeit den „Sieben Hauptsünden“ – Stolz, Geiz, Unkeuschheit, Neid, Unmäßigkeit, Zorn und Trägheit – als die „Achte Hauptsünde“ hinzuzählen. All dies weiß man im ländlichen Raum am besten, dort wo uns der unabänderliche Jahreskreislauf der Natur stets die Grenzen des Machbaren vor Augen führt.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

 

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