2018: Pflegedienst in Utopia
Artikel im Magazin für Politik, Wirtschaft und Lebensstil FRANK & Frei, Wien, Nr. 08/18, Dezember 2018
Wie die Neuordnung von Pflegediensten aussehen könnte
Die Pflege ist eines der großen gesellschaftlichen Zukunftsthemen. Steigende
Lebenserwartung und niedrige Geburtenrate stellen Staat und Gesellschaft vor enorme
finanzielle und soziale Herausforderungen. Experten warnen sogar vor einem Systemkollaps.
Michael Breisky mit einem neuen, unkonventionellen Lösungsvorschlag.
Neulich habe ich von Utopia geträumt. Eigentlich sah es dort genau so aus wie bei uns, nur
wirkten die Utopianer etwas wifer und optimistischer als unsere Landsleute.
So waren auch die Utopianer von einer bösen Scherenentwicklung betroffen: durch
die demographische Entwicklung stieg einerseits und unaufhaltsam der Pflegebedarf;
andererseits war die Staatskassa leer und bei einer Sozialquote um die 50 % war auch
eine weitere Erhöhung der Steuerbelastung politisch nicht machbar. Da machten nun
die Steuereintreiber Utopias eine erstaunliche Entdeckung: sie fanden tatsächlich eine
höchst ergiebige Ressource, die noch völlig unbesteuert geblieben war, und die noch
dazu – welch soziales Glück! – über die gesamte Bevölkerung in ziemlich gleicher
Weise verteilt anzutreffen war. Und flugs legte die Regierung eine Steuer darauf, zum
Wohle der Pflege. Anfangs war die Mehrzahl der Utopianer natürlich dagegen, aber
schon nach einem Probelauf in einem kleinen Teil des Landes wurden Vorteile auch
auf ganz anderen Gebieten deutlich – ja das neue System verbesserte sogar die
zwischenmenschlichen Beziehungen, denn „plötzlich“ gab es wieder gesunde
Familien, und über eine Art Adoption wurde sogar die Großfamilie wiederentdeckt…
Und die neue Ressource? Das war die Zeit.
Utopia legte die neue Zeit-Steuer und Pflege-Reform nicht nur so an, dass
Überschaubarkeit hoch und Verwaltungsaufwand niedrig blieben; sondern wurde
auch sichergestellt, dass bei allen Beteiligten ein Höchstmass an individueller
Selbstbestimmung erreicht wurde. Dies gelang, indem mit Verordnung lediglich das
Ausmaß der von jedem Erwachsenen zu leistenden Pflegestunden festgelegt wurde
und das weitere behördliche Engagement auf zwei einfache Punkte beschränkt blieb:
Den Sozialämtern oblag es, den bedürftigen Menschen den Bedarf an wöchentlichen
Pflegestunden zu bestätigen; und die Finanzämter kontrollierten bei den Zeit-
Steuerpflichtigen an Hand von Bestätigungen der gepflegten Personen (oder ihrer
Angehöriger) lediglich, ob sie genug Pflegestunden abgeleistet haben – widrigenfalls
sie eine „Zeit-Ersatzsteuer“ in alter Geldesform zu zahlen hatten. Alles dazwischen,
also die Zusammenführung von Pflegern und ihren Klienten, die Festlegung der
konkreten Pflegedienste und ihre Abrechnung, musste von den Betroffenen selbst
erledigt werden.
Bei der Festlegung der im Wochendurchschnitt zu leistenden Pflegestunden wurde
zunächst der Bedarf an Pflegestunden in der gesamten Bevölkerung festgestellt und
das Ergebnis durch die Anzahl der Erwachsenen geteilt – natürlich abzüglich der
nachweislich kranken bzw. aus anderen Gründen nicht pflegefähigen Menschen, aber
einschließlich aller einigermaßen rüstigen Pensionisten. Demnach würde bei
Aufteilung des Gesamten Pflegebedarfs auf jeden Einwohner im Land theoretisch 3 ó
Stunden pro Woche kommen, was umgerechnet auf die pflegefähige Bevölkerung
dann etwa knapp 50 Minuten pro Tag ausmacht. In Anlehnung an den aus der Klima-
Politik bekannten Handel mit Emissionsrechten bestand dabei durchaus die
Möglichkeit, mit den täglichen Pflege-Verpflichtungen Handel zu treiben; sie also zu
bündeln, zu tauschen, oder gegen ein (im Vergleich zur „Zeit-Ersatzsteuer“
niedrigeres und steuerfreies) Entgelt ablösen zu lassen.
In der Praxis sah das neue Pflegesystem so aus:
– Als Herr A altersbedingt kränklich wurde und nicht mehr in er Lage war
seinen Single-Haushalt selbstständig zu führen, bestätigte ihm das Sozialamt
nach einer kurzen Untersuchung auf einer Pflegekarte den Anspruch auf
zumindest 7 Pflegestunden pro Woche. Mit einem befreundeten Ehepaar B
vereinbarte Herr A sodann die Übernahme dieser Pflegeleistungen, was für
Frau B die Ableistung ihrer gesamten Pflegeverpflichtung bedeutete, während
Herr B damit nur einen Teil seiner Verpflichtung erfüllen konnte; allerdings
teilte sich dieser mit seiner Schwester die Pflege einer weiteren Person, sodass
die Gesamtverpflichtung des Ehepaares B locker erfüllt wurde. Bürokratisch
waren die Dinge sehr einfach: Herr A und das Ehepaar B bestätigten sich
wechselseitig auf ihren Pflegekarten unter Angabe ihrer
Sozialversicherungsnummern die geleisteten Pflegestunden – und fertig!
– Frau C wurde nach einem Schlaganfall die höchste Pflegestufe zuerkannt, also
Tag und Nacht-Pflege mit besonderen Schwierigkeitsgraden. Dies wurde in
der Weise erledigt, dass der mobile Sozialdienst mit seinen Berufspflegern
jeden Tag vorbei kam, um höher qualifizierte Arbeiten durchzuführen – etwa
für Injektionen, Massage und Behinderten-Bäder – während die weniger
anspruchsvollen Arbeiten von drei Personen im Rahmen ihrer
Pflegeverpflichtung erbracht wurden (natürlich haben alle Utopianer schon in
der Schule die Grundlagen des Pflegedienstes gelernt); zwei von diesen
„Pflicht-Pflegern“ arbeiteten dabei länger als gesetzlich vorgeschrieben, weil
sie die Möglichkeit der entgeltlichen Übernahme der Pflegeverpflichtungen
anderer Personen genutzt hatten
– Herr D ist ein viel beschäftigter Manager, der für Pflegedienste wirklich keine
Zeit zu haben glaubt. Im ersten Jahr bezahlte er daher murrend die „Zeit-
Ersatzsteuer“, die seinem Verdienst während der Stunden seiner
Pflegeverpflichtung entsprach – also rund 10% seines Einkommens. Da ihm
das zu viel war, bezahlte er in den nächsten Jahren lieber aus seiner Tasche
etwas weniger dafür, dass jemand anderer seine ganze Pflege-Verpflichtung
übernahm.
– Der Sohn des Ehepaares B und die Tochter von Herrn D können als 18Jährige
zwischen 6 Monaten Wehrdienst oder Sozialdienst wählen, sind aber danach
4 Jahre lang von der Pflegeverpflichtung befreit.
– Frau E ist allein erziehende Mutter zweier Kleinkinder und hat einen
Halbtagsjob in Aussicht. Sie ist nicht nur von der gesetzlichen
Pflegeverpflichtung befreit sondern auch berechtigt, den Pflegedienst zur
Kinderbetreuung heranzuziehen. Allerdings werden für eine Stunde
Kinderbetreuung nur 20 Minuten Pflegedienst anerkannt.
– Herr F ist Langzeit-Arbeitsloser und Frau G eine rüstige ältere Witwe mit
Minimal-Pension; beide verdienen sich durch Übernahme von
Pflegeverpflichtungen ein schönes Zubrot – und freuen sich obendrein riesig
über das Gefühl „noch gebraucht zu werden“.
– Herr Z ist ein Sozial-Verweigerer, der im Gegensatz zu Herrn F ganz gerne
vom Arbeitslosengeld und ähnlichen Unterstützungen lebt. So kommt er auch
seiner Pflege-Verpflichtung so mangelhaft nach, dass ihm die Bestätigung der
ordnungsgemäßen Leistung verweigert wird. Es macht ihm dann zwar
zunächst nur wenig aus, dass ihm alle Sozialgelder bis auf das
Existenzminimum gekürzt werden; schon bald leidet er aber noch viel stärker
daran, sich aus einer offenbar recht fröhlichen Gemeinschaft selbst
ausgeschlossen zu haben.
Wie schon angedeutet, liegt das wichtigste Resultat dieses neuen Systems nicht in der
Sicherstellung der Pflegedienste und der Entlastung der Staatsfinanzen, sondern in
einem neuen Verständnis der Gesellschaft. Denn ein solches Pflegesystem hat
natürliche Vorwirkungen: Menschen, die das N.herrücken ihrer Pflegebedürftigkeit
spüren, werden sich bei Zeiten nicht nur nach potentiellen Pflegern umsehen; sondern
werden sie diese konkreten Menschen auch nachhaltig in „bestmöglicher“ Weise zu
behandeln wissen. So werden sie gerne Kinder betreuen, Schulwege sichern und sich
im lokalen Verschönerungsverein engagieren. In ähnlicher Weise werden sich auch
jüngere bzw. gesündere Menschen überlegen, wem in ihrem Umkreis als angenehmer
Pflege-Kandidat der Vorzug zu geben wäre. Und die Vorwirkungen gehen noch
weiter: Auch für die Frage, wo man denn „in die Jahre“ kommen will, spielt die
spätere Pflege eine wichtige Rolle, da die Auswahl an Pflegern in typischen
Pensionisten-Vierteln ja sehr beschränkt sein wird; daraus sollte sich der Trend zu
Wohngegenden mit ausgewogenem Generationen-Mix ergeben – was sich wiederum
auf die Infrastruktur günstig auswirken sollte. Selbst die Volksgesundheit profitiert;
denn wer täglich mit Pflegefällen zu tun hat, denkt mehr darüber nach, wie man
länger fit bleiben kann.
Kurz, aus ohnmächtig ausgeplünderten Steuerzahlern und um Almosen in Form von
Pflege und Kinderbetreuung einkommenden Bittstellern werden wieder „Bürger“ mit
echten Wahlmöglichkeiten; und das in der Globalisierung verlachte Prinzip der
Überschaubarkeit kommt in Politik und Gesellschaft wieder zu neuen Ehren.
Ja, in Utopia…..
Also alles nur Utopie? Es liegt ganz an Ihnen, werte Leser!