Europa lieben lernen

Europa lieben lernen

von Michael Breisky

Kurzfassung am Ende des Essays

Der Traum von einem starken Europa war gestern. Nicht nur die Bindungswirkung eines „Nie wieder Krieg in Europa“ ist nach dem Wendejahr von 1989 verblasst, vor allem die politische Homogenität unter den Mitgliedsstaaten ist im Zuge der EU-Erweiterungen immer geringer geworden. Weil keine der äußeren Bedrohungen Europas so dramatisch zu sein scheint, um ein Zusammenrücken zu bewirken, gibt es nicht mehr genug europäische Solidarität, um die Gräben der Unterschiedlichkeit zu überbrücken. So wird heute das Hochgefühl feierlicher Sonntagsreden zu Europa schon Montag früh von den Mühen bürokratischer und asozialer Alltagserlebnisse zerrieben.

Den Ausweg aus diesem Dilemma findet der deutsche Politik-Wissenschaftler Peter Graf Kielmansegg mit dem Essay „Europa neu denken[1] in einem neuen Modus europäischer Integration: an Stelle dogmatischer Prioritäten wie der Verdichtung der europäischen Rechtsordnung, des institutionellen Ausbaus und einer binnen-europäischen Entwicklungspolitik soll nun „pragmatische Zusammenarbeit“ in Projekten stehen, die von umfassendem europäischen Konsens getragen werden. Ist eine solche Zusammenarbeit klug und sachgemäß, könnten von der Bewältigung solcher Aufgaben mehr und stärkere Impulse für die „Entwicklung des Selbstverständnisses der Europäer als Europäer“ ausgehen als von aller Werbung für die Integration Europas im bisherigen dogmatischen Stil. Dieses Selbstverständnis wäre dann wohl auch der Angelpunkt in der Solidaritätsfrage.

 

Kultur als Brückenthema

Ob der dogmatische Weg europäischer „Vertiefung“, Rechtsverdichtung und ähnlicher „harter“ Themen jemals wieder in Schwung kommen kann, ist heute völlig ungewiss; wird doch angesichts geringer Solidarität und der immer wieder angedrohten Möglichkeit zwangsweiser Rechts-Durchsetzung kaum ein Mitgliedsstaat das Risiko auf sich nehmen, überstimmt zu werden. Im Gegensatz dazu käme eine auf Pragmatik und Konsens bauende Zusammenarbeit ohne rechtliche Druckmittel aus, ist also „weich“. Tatsächlich gibt es Themen dieser Art in allen Politikfeldern, vom aktuellen Thema gemeinsamer Katastrophenvorsorge bis zur Außenpolitik als der wohl wichtigste Bereich gesamteuropäischer Kooperation. Der ur-eigenste Bereich des „Weichen“ ist jedoch die Kultur – ein Thema, das bisher angesichts fehlender primärer Zuständigkeit nur sehr eingeschränkt auf der EU-Agenda gestanden ist. Dass dies ein Fehler war, hat schon Jacques Delors 1992 als Präsident der Europäischen Kommission vorhergesehen: „If in the ten years ahead of us we do not succeed in giving Europe its soul, a spiritual dimension, true significance, then we will have been wasting our time. That is the lesson of my experience. Europe cannot live by legal arguments and economic know-how alone.“[2]

Delors’ Weg zur Seele Europas kann nur über die Kultur gehen. Und so kann und soll pragmatische Zusammenarbeit in der Kultur zumindest solange zum Schwerpunkt des neuen Integrationsmodus werden, als eine weitere institutionelle Vertiefung mangels Homogenität und Solidarität unterbleibt. Das sollte gelingen, weil pragmatische und im Konsens betriebene Kultur-Projekte keinen Kompetenz-Bedenken unterliegen. Zudem ist eine Barriere für europäische Kulturarbeit mit dem Brexit weggefallen: gerade weil Kultur der wichtigste Motor für ein über den Freihandel hinausgehendes Gemeinschaftsgefühl ist, hatten die Briten sich bei diesem Thema stets quer gelegt.

 

Europa lieben lernen

Europäische Kulturpolitik muss ja nicht bei null beginnen – es gibt ja schon einige besonders erfolgreiche Projekte; als das wohl erfolgreichste sei hier das Erasmus-Programm genannt, das mit Zuschüssen und Stipendien den Austausch von Studenten und Jungunternehmern fördert. Auf EU-Ebene zu heben wäre der in Deutschland als „Europäische Wettbewerb“ schon 1953 begonnene Aufsatzwettbewerb für Schüler; ihm wäre ein auch auf Erwachsene übergreifendes Interesse zu wünschen, wie es etwa der mit großen Geldpreisen ausgestattete „Spelling contest“ in den USA genießt. Vorbildlich sind auch von ihrer Struktur her EU-Programme nach Art des Maßnahmenprogrammes LEADER, mit dem seit 1991 modellhaft innovative Aktionen im ländlichen Raum gefördert werden. Wenn nun die Kulturpolitik einen deutlich höheren Stellenwert einnehmen soll, um aus dem bürokratischen Monster EU ein geliebtes Europa zu machen, so kann Österreich dabei eine vergleichsweise große Rolle spielen; dies nicht so sehr mit dem, was vom Ruf der „Kulturnation Österreich“ heute noch an echter Substanz vorhanden ist, sondern durch seine Tradition des pragmatischen Blicks über den Tellerrand. Dazu sei hier sowohl Grundsätzliches als auch Konkretes ausgeführt:

 

Europas kultureller Gemeinsinn

Eine europäische Kulturpolitik braucht nicht nur Gewissheit über ihre Methoden und Inhalte, sie wird auch den eigenen Stellenwert als Schwerpunktmaterie der Europapolitik aufzubauen und zu festigen haben. Den Weg zu diesem Ziel öffnet die Anwendung des Böckenförde-Diktums vom Staat auf Europa: Dem deutschen Verfassungsrechtler Wolfram Böckenförde zufolge lebt „der freiheitliche Verfassungsstaat… von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“. Es ist das „ein verbindendes Ethos, eine Art „Gemeinsinn“ bei denen, die in diesem Staat leben. Die Frage ist dann: Woraus speist sich dieses Ethos? […] man kann sagen: zunächst von der gelebten Kultur. Aber was sind die Faktoren und Elemente dieser Kultur? Da sind wir dann in der Tat bei Quellen wie Christentum, Aufklärung und Humanismus“[3]..

Die EU ist bisher ein Elitenprojekt geblieben und somit vom Ursprung her kein Staat im Sinne Böckenfördes, wohl aber scheint sich von außen her durch den geo-politischen Status-Verlust Europas ein Entwicklungsprozess in Richtung Gemeinsinn anzubahnen, der diesen – durchaus staatsähnlich – immer mehr zum kulturellen Träger europäischer Verfassungsstrukturen machen sollte. Dieser Prozess ist bisher eher in einer negativen Definition Europas erfolgreich gewesen; also im Bewusstsein, was Europa nicht ist und auch im Vergleich zu anderen kulturellen Großräumen nicht werden will. Mit anderen Worten, Europa muss sich mehr über seine Identität positiv definieren, was wohl nur über den Gemeinsinn möglich ist. Sein Fehlen wurde ja im Zuge der Covid 19-Pandemie überdeutlich: in solchen Krisenfällen haben nationale Abschottungen ja Hochkonjunktur.

Unabhängig von Verfassungsfragen ist ja die Identität das Primäre, während Rechtsordnung und Wirtschaftssystem nur Teile davon sind. Sehr deutlich macht das die Kunstgeschichte Europas: über alle Sprachgrenzen hinweg sehen wir, wie seit dem Mittelalter sich gemeinsame Ausdrucksformen ausgebildet haben, etwa in der Architektur, der Malerei, der Musik und sogar in der Literatur.  Solange diese Gemeinsamkeit nicht im Bewusstsein der Europäer verankert ist, werden sie vom Gemeinsinn als dem juristisch schwer greifbaren, weil sehr stark im Emotionalen ruhenden und verbindenden Element nicht profitieren können. Nicht zu übersehen ist dabei, dass Gemeinsinn nichts Statisches ist, es sich vielmehr in einen ständigen Diskurs mit den unterschiedlichsten Menschen befindet, also in einer demokratischen Assistenzleistung, die Hand an den Puls der Bevölkerung legt.

 

Nutzung „weicher“ Begriffe

Was hier zur Rolle des kulturellen Gemeinsinns ausgeführt wurde, zeigt schon, dass der bisher dominierende Trend zur Rechtsverdichtung in der EU insofern ein Vakuum erzeugt, als jenseits der Grenzen der Zwangsgewalt des Rechtes angeblich nichts ist, das chaotische Beliebigkeit verhindern kann. Dazwischen sollte es jedoch sehr wohl Orientierungshilfen geben, die sowohl „weich“ als auch wirksam sind. Dazu passt die Warnung des Islam-Wissenschafter Thomas Bauer vor der „Vereindeutigung der Welt“[4]: Er hat gezeigt, dass der gesellschaftliche Diskurs mehrdeutigen Begriffen schon seit längerem aus dem Weg geht. Einer Tendenz zur Verwissenschaftlichung und Verrechtlichung folgend will man sich offenbar auf eindeutige und genau präzisierbare Begriffe bzw. Themen beschränken; das führt nun zu einem gefährlichen „Ambiguitätsverlust“, der die Gesellschaft mehr und mehr polarisiert. Auf der Strecke bleiben damit nämlich vor allem kulturelle Themen wie Moral, Spiritualität und Religion, Identität und nicht zuletzt Schönheit – Dinge mit diffusen Rändern, von denen man zwar weiß, was sie meinen, die man aber trotzdem nur schwer definieren kann. Nun ist gut verstandene Mehrdeutigkeit eigentlich genau das, was Europa ausmacht, und worin die Bindungswirkung des Gemeinsinns liegen sollte. Die höchste Form solcher Mehrdeutigkeit findet man übrigens in Satire und Witz, nach Ludwig Wittgenstein das beste Mittel um komplexe Dinge verstehen zu können – Humorlosigkeit kann die EU also noch auf das Totenbett bringen!

Wie ich in einer anderen Schrift ausgeführt habe[5], ist dieser kulturelle Gemeinsinn keineswegs zahnlos, wenn man die Club-Frage stellt: „Gehörst Du zu uns?“ Diese Frage gibt der Zivilgesellschaft die Möglichkeit, das Vakuum zwischen Recht und Beliebigkeit mit soft power zu füllen, sei es durch gezielte Förderungen oder durch die Androhung eines sozialen, also außer-rechtlichen Ausschlusses. So lässt sich im nicht-öffentlichen Bereich, wo der rechtliche Freiraum groß ist, mit der Frage „ist das noch europäisch?“ durchsetzen, was rechtlich nicht angeordnet werden kann, also Dinge wie Traditionspflege, Respekt vor allen Religionen, aber auch europäische Ästhetik und scheinbare Lappalien wie Dresscodes oder Grußformen.

Politisch verlangt das die klare Anerkennung und Förderung „gemeinsinniger“ Ausdrucksformen sowie die Sicherung der Autonomie zivilgesellschaftlicher Zusammenschlüsse – all das natürlich nur mit rechtsstaatlichen Mitteln.

 

Der neue Regionalismus

Erste Eindrücke von den Folgen der Corona-Krise zeigen, dass Macht immer zu höchster Effizienz strebt, so wie Wasser seinen Weg zu finden weiß. Macht kommt also dorthin, wo nun einmal die „harten“ Kompetenzen zu finden sind, die keine Mehrdeutigkeit dulden, und denen mit der drohenden Zwangsgewalt des Rechtes die stärkste Durchsetzungskraft zugebilligt wird. Seit den längst vergangenen Zeiten des Nachtwächterstaates findet sich das in Europa noch immer in Nationalstaaten mit ihren Zentralregierungen. Anders jedoch die „weichen“ Kompetenzen einschließlich der Kulturpolitik, wo Konsens sehr wirksam und meist auch leichter zu erreichen ist: hier sagt die Erfahrung, je kleiner eine politische Einheit, desto größer die Wahrscheinlichkeit ihrer kulturellen Homogenität und damit auch der Konsenserzielung. Dieser Fingerzeig zu den traditionellen, relativ kleinen Regionen Europas wird durch eine weitere Folge der Corona-Krise gestärkt, nämlich das zivilgesellschaftliche Zusammenrücken in Richtung regionaler und lokaler Resilienz – ein wirtschaftliches und soziales Phänomen, das sich gleichfalls in „weichen“ Materien abspielt und auch das politische Verhältnis zwischen Nationalstaat und seinen Regionen beeinflussen dürfte. Zudem waren im Sozialen schon immer regionale Differenzierungen geboten, und wenn im Wirtschaftlichen die Staatsregierungen zwar die größten Finanzmittel für den Wiederaufbau nach dem Lockdown zusagen konnten, so sprechen schon bei der Abwicklung dieser Zusagen die notwendigen Differenzierungen für die Involvierung regionaler Stellen. Weil regionale Differenzierungen auch dem kulturellen Gemeinsinn zu mehr konkreteren Inhalten verhelfen, sollten also die Regionen bei „weichen Themen“ in der neuen pragmatischen Zusammenarbeit der EU den Vorzug erhalten.

Für die Politik sollte das darauf hinauslaufen, den Ausschuss der Regionen der EU aus seinem Dornröschenschlaf zu holen, indem man ihm die Finanzmittel zur Förderung von Europa-Programmen der Regionen gibt.

Europa emotional verinnerlichen

Weil die EU allgemein mit schwer durchschaubarer Komplexität und extrem viel Bürokratismus assoziiert wird, muss es ein vorrangiges Ziel europäischer Kulturpolitik sein, Wege zu finden, die eine einfache, allgemein verständliche Darstellung der EU ermöglichen und damit auch emotionale Bindungen fördern. Das erfordert zum einen eine andere Sprache – anstelle juristisch präziser Begriffe kann nun mit mehrdeutigen, aber allgemein verständlichen Begriffen kommuniziert werden. Zum anderen sind auch psychologische Kunstgriffe erlaubt, die die Verständnis- und Merkfähigkeit erhöhen. Dazu gehört die „Dreigestirn-Theorie“, also die Erfahrung, dass man sich bei Aufzählung zahlreicher Dinge tunlichst auf drei beschränken sollte – mehr kann man sich ja nur schwer merken.

 

Ein Dreigestirn der Werte

Die EU ist eine Wertegemeinschaft. Sie gründet sich nach Art.2 des EU-Vertrages auf „die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“ Die Ausführlichkeit dieses Katalogs mit seinen sehr zahlreichen Prinzipien mag zwar für die Auslegung von Rechtstexten der EU notwendig sein, in kulturpolitischer Sicht ist diese Aufzählung jedoch schwer vermittelbar. Allerdings lassen sich alle diese Prinzipien mit drei Grundwerten begründen; es ist dies „garantierte Vielfalt auf Augenhöhe“, mit anderen Worten die Formel der „Vielfalt in Gleichberechtigung und Sicherheit“. Tatsächlich steckt in den vielen Rechts-Prinzipien  meist eine Kombination der drei Grundwerte in verschiedener Gewichtung.  Vereinfacht lassen sich die zitierten Prinzipien im Einzelnen wie folgt zuordnen:

  • schon die ersten vier Prinzipien des zitierten Artikels zielen auf Vielfalt als den zentralen Grundwert
  • in den folgenden drei Prinzipien wird ihre Sicherung bzw. die Notwendigkeit der Durchsetzung von Vielfalt angesprochen;
  •  wo die restlichen sechs Prinzipien die Gleichberechtigung näher ausführen, läuft das auf die Ebene der Augenhöhe hinaus.

Wie gesagt, stützen sich die meisten Prinzipien auf eine Kombination der Grundwerte. Beispielsweise drückt das demokratische Prinzip aus, dass die Vielfalt von politischen Meinungen in gleichberechtigter Weise so gesichert werden muss, dass die Vielfalt auch effektiv umgesetzt werden kann. Toleranz drückt die Kombination von Vielfalt und Gleichberechtigung aus, und Solidarität kann man als eine Form der nachhaltigen Sicherung von Vielfalt ansehen. Selbst die in Art.2 nicht erwähnte Pflege kultureller Traditionen kann mit den drei Grundwerten abgedeckt werden, da Kultur zur Menschenwürde gehört, das Verhindern eines kulturellen Vakuums politische Stabilität fördert und damit auch vielfältige Sicherheit erzeugt.

Was hier erreicht werden soll ist die Durchsetzung der Formel der drei Grundwerte im alltäglichen Sprachgebrauch. Es liegt wohl hauptsächlich am Europäischen Parlament, entsprechende Initiativen zu ergreifen.

 

Die kulturelle Basis

Diese Kurzbeschreibung der EU mit „Vielfalt in Gleichberechtigung und Sicherheit“ lässt sich kurz und sinnvoll mit den Worten ergänzen „…auf der Basis des christlich-humanistischen Erbes„. Denn so praktikabel auch die Kürze des „Dreigestirns der Werte“ sein mag, bleibt sie doch auch im Abstrakten,  was unter dem Gesichtspunkt „Europa lieben lernen“ nicht genug sein dürfte. Durch den Verweis auf Christentum und den Humanismus der Aufklärung gewinnt dieses kulturelle  „Erbe“ vermehrt Möglichkeiten der Identifikation; als historisch zu verstehender Wert bleibt das Erbe jedoch auch für Neues offen.

Dieser Zusatz lehnt sich im übrigen der Präambel zum EU-Vertrag an, die der Union ein „schöpfend aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas“ zuschreibt. Nähere Betrachtungen dieses Zitats zeigen ja zum einen, dass die „kulturelle“ Quelle dieses Erbes primär im Formalen der kulturellen Entwicklung liegt – also einschließlich ihrer Tradition. Zum anderen nehmen Religion und Humanismus auf ihren  Inhalt Bezug. Die ausdrückliche Nennung des „christlichen“ Erbes an Stelle eines bloß „religiösen“ entspricht der realen Geschichte Europas.  Und der Bindestrich im „christlich-humanistischen“ Erbe an Stelle des „und“ soll die  gut belegbare Einsicht illustrieren, dass sich der Gegensatz zwischen Christentum und dem Humanismus der Aufklärung mittlerweile in ein produktives Spannungsverhältnis gewandelt hat.

 

Das Dreigestirn vorbildlicher Europäer

Gerade weil die EU so stark mit abstrakten Regeln und nicht zuletzt mit gesichtslosem Bürokratismus assoziiert wird, täte es ihr gut, europäische Heldensagen zeitgemäßer Art zu schaffen, die vorbildliche Menschen sozusagen „zur Ehre europäischer Altäre“ erheben. Ähnlich wie bei den auf drei reduzierten Grundwerten des EU-Vertrages ist ein Dreigestirn von einander ergänzenden Identifikationsfiguren leichter zu vermitteln als eine längere Aufzählung solcher Persönlichkeiten. Ideal wären wohl „Haushalts-Namen“, deren Einfluss auf europäische Werte auch außerhalb der Politik breiten Bevölkerungsschichten bekannt ist.

Und auch hier wäre es wohl angebracht, wenn dieser europäische „Heiligsprechungsprozess“ vom Europäischen Parlament beschlossen wird. Auch wäre es von der Öffentlichkeitswirkung her gewiss ein Vorteil, dem Europäischen Parlament etwa alle zehn bis zwanzig Jahre die Möglichkeit zu geben, dieses Dreigestirn zu bestätigen bzw. zu überprüfen und so dem Zeitgeist Rechnung zu tragen –  dass diese Prozedur wohl enorme  Publikumswirkung hätte, liegt wohl auf der Hand.

Vermutlich wäre schon der Findungs-Prozess dieser vorbildlichen Europäer von enormen Gewinn für den Europa. Denn ausgehend von der Erwartung, dass kein Land damit rechnen kann, dass es das gesamte Dreigestirn stellen würde; müssten doch die Menschen in jedem EU-Staat sich mit europäischen Verdiensten von Bürgern anderer EU-Staaten auseinandersetzen – eine Aufgabe von unschätzbar hohem Wert für den Europa-Gedanken.

Auf rein persönlicher Basis könnte ich mir ein Dreigestirn aus Wolfgang Amadeus Mozart, Papst Johannes XXIII und Anne Frank vorstellen: Mozart, weil er mit seiner alle Sprachgrenzen überschreitenden Musik die Ideale der europäischen Aufklärung in wunderbarer Weise zu vermitteln wusste; „Il Papa Giovanni“, weil er in liebevoll großväterlicher Ausstrahlung und ohne Aufgabe kultureller Identität die europäischen Tugenden der Toleranz und des Dialogs zur Kernbotschaft des Aufbruchs in neue Zeiten („Aggiornamento“) gemacht hat; und Anne Frank, weil diese junge Frau in ihrem Tagebuch vor einem schrecklichen Hintergrund Zuversicht zu bewahren wusste und in besonders berührender Weise tolerante Menschlichkeit vermittelt hat.

 

Europas Ehrenhalle

Im Unterschied zu dem beschriebenen „Dreigestirn“, das sehr bewusst eine geradezu mystische Überhöhung historischerer Personen, aber auch Europas bewirken wuerde, sollte daneben und gleichfalls durch das Europäische Parlament nach Art der „List of Living Treasures“ einiger asiatischer Länder eine bestimmte Höchstzahl von Persönlichkeiten für ihre Verdienste um Europa auf Lebenszeit in eine Art „Ehrenhalle“ nominiert werden. Dabei ginge es um das Hervorheben konkreter Verdienste in der Gegenwart,  und sollte sich tunlichst jede Region in diesem Kreis repräsentiert sehen.

 

Eine europäische Jugendhymne

Mit Beethovens Vertonung der „Ode an die Freude“ hat Europa schon eine offizielle Hymne. Sie wird zwar nur instrumental gespielt – Schillers Text war nicht mehrheitsfähig – ist aber sehr feierlich und so erhebend, wie es sich für ein in sich gefestigt ruhendes Staatswesen gehört. Hoffentlich wird Europa einmal zu einem solchen Bewusstsein der Selbstverständlichkeit gelangen – heute ist es jedoch noch recht weit davon entfernt, wie die schon angesprochene Kluft zwischen Diversität und Solidarität zeigt.

Nun kann gerade eine Hymne helfen, diese Kluft mit einer besonderen Stimmung zu überwinden, wenn sie von großem Zukunftsoptimismus getragen ist und eine Sammlungsbewegung fördert. Es liegt daher nahe, neben der offiziellen Hymne so etwas wie eine europäische Jugendhymne zu haben. Diese soll schon von den ersten Takten eine mitreißende Melodie haben, die auch gerne ohne instrumentale Begleitung gesungen wird – wie es eben junge Menschen oft bei informellen Anlässen tun.

Ähnlich wie das Deutsche Kaiserreichs und Österreich-Ungarns verschiedene Texte zur gleichen Melodie der alten Haydn-Hymne gehabt haben, sollen auch junge Europäer unterschiedlicher Muttersprache diese Hymne zu verschiedenen Texten singen können. Dem würde eine gewisse Harmonisierung der Texte nach Sprachgruppen entsprechen, etwa mit schlagwortartigen Vorgaben in einer bestimmten Reihenfolge von Strophen. Auch die Ergänzung der Hymne mit nationalen oder regionalen Strophen sollte möglich sein. Und wiederum wäre das Europäischen Parlament das bestens geeigneten Forum für die Beschlussfassung zur Melodie und die Koordinierung der Texte nach Sprachgruppen – all dies im Rahmen maximaler Publikumsbeteiligung in einem europäischen Wettbewerb.

Die richtige Melodie wäre im Übrigen m- –  zeiner persönlichen Meinung nach aus der Oper „Die Hochzeit des Figaro“ die Arie Figaros „Nun vergiss leises Fleh’n“ – ich spüre in ihr mindestens soviel dynamische Aufbruchsstimmung wie in der Marseillaise.

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Soweit also einige Ideen zum Thema einer europäischen Kulturpolitik.  Zum Thema gehört freilich auch das besonders komplexeVerhältnis der EU zu Religion, das in einem gesonderten Beitrag behandelt werden soll.

Es liegt an den europäischen Institutionen des Parlaments, der Kommission und des Ausschusses der Regionen, den Erfindungsreichtum der europäischen Bürger zu mehr und besseren Ideen so weit anzustacheln, dass der alte  Traum von Leuchtturm Europa Wirklichkeit wird.

 

Kurzfassung:

Weil die Homogenität unter den EU-Mitgliedsstaaten durch die EU-Erweiterungen sinkt, stockt der Ausbau der Institutionen, und weitere Rechtsverdichtung ist auf absehbare Zeit nicht möglich. Der Europa-Gedanke muss daher auf Konsens-fähige Projekte bauen, für die sich vor allem pragmatische Zusammenarbeit im Kulturbereich anbietet. Ziel ist die Ausbildung eines europäischen Gemeinsinns nach dem Böckenförde-Dictum unter dem Motto „Europa lieben lernen“.

Kultureller Gemeinsinn steht als soft power zwischen hard power von rechtlicher Zwangsgewalt und chaotischer Beliebigkeit. Vorteil ist positiver Umgang mit weichen (diffusen) Begriffen (zB Schönheit, Identität, Heimat). Regionalismus und strikte Subsidiarität sind hilfreich.

Konkrete Projekte: Umgangssprachliche Vereinfachung komplexer Rechts-Materien, etwa „Vielfalt in Gleichberechtigung und Sicherheit“ als Umschreibung der 13 Prinzipien von Art. 2 EU-Vertrag; Personalisierung durch ein zu wählendes Dreigestirn vorbildlicher Europäer, ähnlich auch regionale Vorbilder in einer Ehrenhalle; eine mitreissende Jugendhymne.

Religionen: wiederkehrende Bedeutung; staatliche Religionsförderung in der Form von örtlicher Orientierungshilfe; das Islam-Modell der Gebiete des vertraglichen Friedens“; staatliche Toleranz-Verträge nach diesem Muster.

Anhang: Elemente für Toleranzvertrag

[1] in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 20.4.2020

[2] laut „Summary of Addresses by President Delors to the Churches“, herausgegeben von der Commission of the European Communities am 14. Mai 1992 (Nr. 704E/92):

[3] Ernst-Wolfgang Böckenförde, Artikel „Freiheit ist ansteckend“ in: Frankfurter Rundschau v 2.11.2010 (zitiert nach Wikipedia)

[4] Thomas Bauer, Essay Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, 2018 Reclam Verlag

[5] Michael Breisky,  Renovatio-Analysen 1/2021,  https://renovatio.org/2021/03/neue-publikation-michael-breisky-der-gemeinsinn-als-ethos-des-gemeinwesens/

[6] Vergl. Michel Houellebecq: Ein bisschen schlechter. Neue Interventionen, Köln 2020.