2011: Die Vernunft unterwegs von Aufklärung zu Abklärung

Die Vernunft unterwegs von Aufklärung zu Abklärung

oder (fast) alle Wege führen zu Leopold Kohr

Vortrag zu 10 Jahre Institut für Logotherapie in Salzburg, 7.Oktober 2011

Zitate:

Der große Evolutionsforscher Rupert Riedl schreibt in seinem Buch „Evolution und Erkenntnis“ über seine Diskussion mit Marion Gräfin Dönhoff 1979 in Rom: „In einer zweiten Aufklärung wird nicht mehr gegen die Inhumanität von Kirche und Aristokratie angetreten, sondern gegen jene von Ideologie und Kapital; und dann soll ..nicht die Unbegrenztheit des Machbaren den Menschen befreien, sondern die Einsicht in die Grenzen seines Vermögens.“„Das, sagte Gräfin Dönhoff, ist aber eigentlich eine Art der Abklärung!“ So ist es!

Leopold Kohr, Begründer der post-modernen Philosophie vom menschlichen Mass: „Das wirkliche Problem unserer Zeit ist nicht ideologisch sondern dimensional“.

Grenzen der Vernunft:

Der Materialismus ist zwar das Lieblingskind des Rationalismus und damit auch der Aufklärung, trotzdem grassiert die Sinnkrise und brauchen wir mehr denn je Logotherapeuten. Aber auch gesellschaftlich kann man zur Vernunft nur seufzen: une chose qui commence ci bien et finit ci mal…. Denn:

Nukleartechnologie ist zwar Gipfel technischer Vernunft, trotzdem ist das Desaster von Fukushima passiert;

Marktwirtschaft ist zwar der Gipfel wirtschaftlicher Vernunft, trotzdem stehen wir in einer globalen Finanzkrise;

Demokratie ist zwar der Gipfel politischer Vernunft, trotzdem sprießen überall die Wutbürger aus dem Boden.

Warum ist auf die Vernunft nicht länger Verlass? – Ausflug in die Biologie:

Auge und Vernunft: Unter unseren 5 Sinnen entspricht der Vernunft am meisten der Seh-Sinn mit seiner Gabe des Fokussierens. Im Fokus können wir aber nur ganz, ganz wenige Winkelgrade unseres Blickfeldes behalten. Um den Fokus auf andere Objekte in unserem Blickfeld zu lenken, muss dort irgend etwas Bemerkenswertes geschehen – meist sind das Bewegungen am Rande, die uns dann veranlassen, dort „näher hinzuschauen“. Aber auch das Blickfeld unser Augen umfasst nicht einmal 180 Grad; und um etwas optisch zu erfassen, was hinter dem Kopf liegt, müssen wir erst durch andere Sinne – etwa den Hör- oder Geruchsinn – sensibilisiert und durch eine Kopfdrehung zu einer Änderung des Blickfeldes veranlasst werden. Wir sehen also: was außerhalb des Fokus des Auges – oder der Vernunft – liegt, muss mit anderen Mitteln erfasst werden – also mit etwas, das selbst nicht wieder optischer Fokus bzw. die Vernunft ist.

Wächter/Spezialist: Bei der Verarbeitung der von außen kommenden Informationen in unserem Kopf kommt es zu einem Zusammenspiel von zwei völlig verschieden arbeitenden Systemen, nämlich der „instinkthaften“ bzw. unreflektierten Ebene einerseits und der bewusst reflektierenden Ebene andererseits. Die erste und „urtümliche“ ist ganzheitlich organisiert und dient der ersten Auswertung der vielen parallel und kontinuierlich hereinströmenden Sinneswahrnehmungen, um die biologischen Urfunktionen – die „4 f“ feed, fight, flight und fuck – ein- und auszuschalten. Die andere Ebene im biologisch „jungen“ Großhirn soll die konzentrierte, vorwiegend abstrakt-sprachliche Beschäftigung mit jeweils einer Aufgabe ermöglichen, ist also auch die Bühne der Vernunft. Im Zusammenspiel kann man die beiden Ebenen mit einem gut eingespielte Einbrecher-Duo vergleichen: Weil der eine ständig für seinen Partner Schmiere steht und neue Chancen auskundschaftet – also immer „ganzheitlich aufpasst“ – kann sich der andere auf die eigentliche Arbeit an Türschlössern und Mauer- Safes konzentrieren

Wesentlich an der Arbeitsteilung des „Duos“ ist, dass auch das Schweigen des „Spähers“ das Resultat wichtiger Arbeit ist: Er leistet Schwerarbeit, denn wenn er dem „Spezialisten“ auch nur wenige Meldungen bzw. Handlungs-Impulse weiter gibt, so hat er doch eine Vielzahl von Eindrücken geprüft und als „nicht bemerkenswert“ abgelegt. (Beispiel: während ich jetzt spreche, registriert mein „Späher“: kein Knistern im Gebälk kündet vom drohenden Einsturz des Hauses, niemand bedroht mich mit tätlicher Gewalt, keine Appetit anregenden Düfte zu verspüren, trotz zahlreicher fescher Weiber im Saal kein unmittelbarer Handlungsbedarf). Dementsprechend ist auch seine Verarbeitungskapazität für holistische Information rund einhundert millionenfach stärker als die des „Spezialisten“ bei bewusster bzw. fokussierter Information. Jedenfalls erlaubt dem „Spezialisten“ – bzw. der Vernunft – erst die Gewissheit, dass tausende mögliche Gefahren mit negativem Resultat geprüft wurden, davon auszugehen, dass bis zum ausdrücklichen Widerruf durch seinen „Späher“ „die Luft rein ist“; hier gilt also das berühmte „no news is good news“.

Dieses Zusammenspiel des „Duos“ ist auf dem Niveau der Alt-Steinzeit stehen geblieben. Schon damals konnte sich der „Spezialist“ – und auch der Gebrauch der Vernunft als seine höchstentwickelte Form – nur deshalb in der uns heute bekannten Form entwickeln, weil er immer auf den „Flankenschutz“ des ganzheitlich arbeitenden „Spähers“ zählen konnte. Nun befinden wir uns ja heute im aufklärerischen Zeitalter der Neuzeit, wo die Vernunft das Szepter in die Hand genommen hat. Schon der Beginn der Neuzeit ist für die neue Denkungsart typisch: Columbus hörte, dass die Erde rund sei und machte diese Abstraktion zum Gegenstand einer Projektion, die allen holistischen Erkenntnissen seiner Zeit zuwider lief: War der Landweg zu dem im Osten liegenden China versperrt, so konnte man „immer weiter“ nach Westen segeln und so letztlich doch China erreichen.

Ob die Projektion des Columbus ein Erfolg war, wird bis heute diskutiert – jedenfalls hat diese Methode rationaler Projektion Schule gemacht und ist zur Grundlage unseres Fortschrittglaubens geworden: Man reduziert eine komplexe Situation auf eine Abstraktion, überprüft dies nach Möglichkeit in einem kleinen Modellversuch und projiziert dann diese Abstraktion linear auf ein meist größeres – und daher auch komplizierteres – Umfeld.

In dem Maße, wie technischer und gesellschaftlicher Fortschritt die Ausdehnung des menschlichen Wirkungskreises über den Gesichtskreis hinaus ermöglicht hat, hat aber das „no news is good news“ nicht mehr gestimmt; und musste im Interesse des ganzheitlichen Flankenschutzes ein Ersatz für den „Späher“ gefunden werden. Dies ist zunächst auf zwei Wegen einigermaßen gelungen:

Zum einen schwirrt im gesellschaftlichen Umkreis des Menschen auch außerhalb des sichtbaren Umfeldes eine Unzahl von Informationen umher, die man ungefragt mitbekommt; sei es, dass man Zufallszeuge von Ereignissen ist, die einen nichts angehen; oder sei es, dass man persönlich bekannten Zeugen vertraut, die – gefragt oder ungefragt – über ihre eigenen Beobachtungen berichten. Ähnlich auch die Wirkung lokaler Medien: was dort an Informationen verbreitet wird, berührt meist Personen und Dinge, die auch aus eigener Anschauung bekannt sind – die Glaubwürdigkeit der Lokal-Meldung ist damit bereits weitgehend geprüft. Die Dichte neuer und alter, Informationen mit einem fixen örtlichen Bezug wird in der Regel so groß sein, dass man sich jederzeit über sein weiteres Umfeld ein ganzheitliches „Bild“ machen kann. In diesem Sinne verfügt wohl jeder Mensch über einen „sozial überschaubaren Raum“, in dem ihm ungefragt „alles Bemerkenswerte“ zugetragen wird.

Zum anderen konnte man lange Zeit auf ganzheitliche Hilfsmittel der Vernunft vertrauen, die – wie Religion und Moral, nachhaltige Tradition, Kunst, Aesthetik und Harmonie-Streben – durchaus in der Lage waren, den Menschen vor maßlosen Projektionen seiner Vernunft zu warnen.

Nun haben „vernünftige Projektionen“ als die wohl wichtigsten Träger des Fortschrittsgedankens im ausgehenden 20. Jahrhundert eine Scherenentwicklung erfahren: Einerseits hat der Wegfall technischer und politischer Grenzen im Zuge der Globalisierung den Anreiz zu immer mehr Projektionen von globaler Tragweite gegeben, findet also außerhalb des sozial überschaubaren Raums statt; und andererseits findet im Zuge der Säkularisierung nur mehr das aufgeklärtes Vernunftdenken allgemeine Anerkennung – die erwähnten Hilfsmittel vernünftiger Erkenntnis haben damit ihre korrigierende und inspirierende Wirkung weitgehend verloren; der Vernunft fehlt somit der „ganzheitliche Flankenschutz“.

Natürlich hat unsere Zeit auch andere Fehlerquellen der Vernunft auf Lager; ich denke etwa an die irrrationalen Folgen von Informations-Überflutung und Neugier-Schwund, wo man Evolution im Rückwärtsgang beobachten kann, mit Fremdenfeindlichkeit und schwindender Toleranz als natürlicher Folge. Aber schon das Gesagt genügt, um zu Rupert Riedls Zitat zurückzukehren: Seit Columbus ist es möglich, einzelne Dinge aus dem Dunkel des Mittelalters hervorzuheben und sie mit dem Scheinwerfer aufklärerischer Vernunft zu beleuchten und vielleicht auch zu durchleuchten; offen blieben aber die Abklärungen, wie sich die im Scheinwerferlicht präsentierten Dinge zu ihrer Umwelt verhalten. Und Riedls Begrenzung im Inneren des Menschen, die es heute zu ergründen gilt, ist die offene Frage, ob bei neuen Projektionen das Schweigen des „Spähers“ als Unbedenklichkeit oder als Unwissenheit gedeutet werden kann.

Wie retten wir die Vernunft?

Spätestens an dieser Stelle ist zu präzisieren, dass die Vernunft noch immer eine der besten Gaben ist, die die Schöpfung uns mitgegeben hat. Auch wird hier nur die Methodik der Aufklärung in Frage gestellt, nicht aber ihre Werte; diese bleiben in Stein gemeißelte Beispiele des Fortschritts – es genügt auf die Menschenrechte hinzuweisen oder die Überschlagsrechnung, dass ohne den technologischen Fortschritt als typisches Kind der Aufklärung von den sieben Milliarden Menschen der Weltbevölkerung fünf Milliarden nicht einmal geboren worden wären.

Die Richtung, die es einzuschlagen gilt, ist klar: Vernunft braucht ganzheitlichen Flankenschutz; d.h. ohne die Sicherheit, ungefragt vor Nachteilen gewarnt zu werden, die außerhalb des Bewusstseins drohen, gleicht die Vernunft dem Autofahrer, der auf leerer Autobahn mit Vollgas in die Nebelwand fährt. Das Umfeld des Vernünftigen muss also überschaubar sein – wobei diese Überschaubarkeit am besten bei dem Vernünftigen selbst gegeben sein soll, nur „ersatzhalber“ auch bei seinen engsten Vertrauten.

Erster Schritt in diese Richtung ist die Rehabilitierung der schon erwähnten Hilfsmittel vernünftiger Erkenntnis, also von Religion, Moral, beständiger Tradition, Aesthetik, Kunst und Harmoniestreben. D.h. dass auch die von den Naturwissenschaften ins Hinterzimmer verdrängten Geisteswissenschaften wieder auf die Bühne gerufen werden müssen.

Was die weiteren Schritte angeht, so möchte ich mich hier auf die Außenführung des Menschen beschränken – im Gegensatz zur Innenführung, also das „what makes me tick“, das ich gerne in die bewährten Hände der hier und heute zu recht gefeierten Logotherapeuten lege. Und bei dieser Außenführung kann ich mich nochmals beschränken – auf das Ideengebäude Leopold Kohrs, des Wiederentdeckers des menschlichen Maßes und des Apostels der Überschaubarkeit. Denn Abklärung ist ja nichts anderes als Überschaubarkeit in Aktion.

Kohr, von dem man leider immer noch nicht viel mehr bekannt ist als das „small is beautiful“, hat zeitlebens für den konkreten Menschen und gegen abstrakte Prinzipien und Ideologien gekämpft. Er hat schon früh erkannt, wie durch scheinbar vernünftige Abstraktion konkreter Situationen die tatsächlichen Kosten von extensivem Wachstum in Wirtschaft und Politik vordergründig versteckt, tatsächlich jedoch anderen aufgebürdet werden. Kohr tritt daher dafür ein, dass die „Wertschätzung“ für die ganze Persönlichkeit des Menschen und das Komplexe seiner Umwelt niemals verloren geht. Seine Thesen lassen sich in drei einfachen Wahrheiten zusammenfassen:

1.Der freie Mensch ist lieber konstruktiv als destruktiv, und er ist jederzeit für Überraschungen gut.

2.Wenn etwas größer wird, wird es gleichzeitig um ein Vielfaches komplizierter. Das ist Kern seiner Gesellschaftstheorie und folgt der Natur, die Probleme der Übergröße durch Zellteilung oder Tod löst

3.Wenn etwas zu kompliziert geworden ist, oder große Ideen ins Maßlose gesteigert werden, dann werden die Überraschungen böse sein. Kohr folgt damit dem Paracelsus-Wort: „Alles ist Gift – entscheidend ist die Dosis“ – in meinen Augen ist das der wichtigste Teil seiner Philosophie.

Im ersten Satz steckt Kohrs Menschenbild. Die Überraschungsfähigkeit des Menschen ist für Kohr der Urgrund seiner Individualität und Würde; ist aber auch Sicherung gegen Manipulation und die Grundlage der Demokratie. Das ist ein optimistisches Menschenbild – jedoch mit strengen Voraussetzungen: Sei es, dass man bereit ist, die eigene hohe Fehler-Anfälligkeit im freien Meinungsaustausch mit Freunden einzudämmen (am besten im freien Diskurs der von Kohr so geliebten „akademischen Wirtshäuser“); oder dass man Rahmenbedingungen für ein kleines und überschaubares Umfeld schafft, das dem Menschen ein längeres Verstecken in Anonymität verwehrt. Denn dieses Verstecken ist so bequem wie gefährlich, der Einzelne will ja gefordert werden. Zwar „schenkt“ der Massenstaat dem Einzelnen berauschende Emotionen und ein kurzes Gefühl der Geborgenheit; die fehlenden Kontrollmöglichkeiten führen aber langfristig zu hohen Kosten, Unfreiheit und schließlich zum Untergang. So lebt der Mensch in einem Spannungsverhältnis: Ideal, aber praktisch unerreichbar ist der „romantische Anarchismus“, wo der Einzelne so frei und durch brüderlichen Ratschlag so klug, konstruktiv und ethisch ist, dass auf staatliche Hierarchien verzichtet werden kann; am anderen Ende der Skala steht ein völlig anonymes und total fremdbestimmtes Massenwesen, der angebliche Homo sapiens.

Ich würde mich freuen, wenn sich der Weg zu individueller Ethik, den Kohr mit gesellschaftlichen Mitteln der Außenführung aufgezeigt hat, mit den den Mitteln der Innenführung verbinden ließe, auf die sein Landsmann Viktor Frankl gewiesen hat.

Abschließend drei Merksätze:

– Aufklärung ohne Abklärung führt zu Unvernunft

– „No news must remain good news“; d.h. ganzheitlicher Flankenschutz muss spontan und ungefragt gewährt werden – nur so entsteht Überschaubarkeit und Abklärung

– Große Ideen, Ideologien und vor allem das Prinzip der Einheitlichkeit sind die Autobahn zu Maßlosigkeit und damit auch zu Untergang.