„Die Presse“, Wien 28.September 2024, Gastbeitrag:
Die Schwächen der Kompromiss-Pyramide
Das politische System in Österreich hat ein Problem: Wer es mit Kompromissen übertreibt, zementiert die Gegenwart auf Kosten der Zukunft.
von Michael Breisky
„Wir wer’n kaan Richter brauch’n“ ist ein trefflicher österreichische Befund, von Freund und Freunderl gern gebraucht. Dass es hier nicht nur um Pragmatik als höchste Staatsraison geht, fand schon der 2022 verstorbene ÖVP-Politiker Erhard Busek: „Der Österreicher sieht schon den Kompromiss, bevor er das Problem erkannt hat.“ Das Positive an diesen Befunden ist der im Dachauer KZ entstandene „Geist der Lagerstraße“, der österreichische Bürgerkriegsgegner zu Konsenssuchern werden ließ – und das geht natürlich nur mit Kompromissen. Gute 50 Jahre ging das mehr als nur gut, aber man kann das Gute auch übertreiben.
Erhard Busek deutet es an: Kompromiss als Selbstzweck beendet den Diskurs und damit verschließt man die Augen vor längerfristigen Veränderungen der Entscheidungsgrundlagen. Die Folge ist Versteinerung, besonders im politischen System.
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Es ist ja nicht die Lösung des Problems, die Buseks Österreicher (m/w/*) suchen, sondern nur der Kompromiss zum aktuellen Punkt der Tagesordnung. Gelingt der Kompromiss, dann darf der Kompromissler den Posten behalten, den er selbst auch nur durch einen derartigen Kompromiss erhalten hat. Wenn man aber mit jedem Kompromiss einen Teil der eigenen Position aufgibt, läuft die Häufung von Kompromissen auf den Verzicht der Zukunftsgestaltung hinaus – der Kompromiss zementiert die Gegenwart auf Kosten der Zukunft.
Wenig Gestaltungsfreiheit
Dieses System dominiert unsere einstmals staatstragenden Parteien, besonders die ÖVP: Bundesparteiobmann wird man durch einen Kompromiss zwischen den wichtigsten drei Bünden und den drei Landesparteien, wobei die Zustimmung in jeder (!) dieser sechs Institutionen wieder auf Kompromissen ihrer in gleicher Weise aufgebauten Teilorganisationen beruht, die meist sehr knapp ausfallen und eher der Besitzstandswahrung folgen als der Zukunftsgestaltung. Die Konsenssuche mag in anderen Parteien von weniger Unterorganisationen abhängen, dafür ist eine davon – manchmal sind es auch zwei – so stark, dass „niemand an ihr vorbeikann“ – was die Fähigkeit zu langfristig wirksamen Problemlösungen genauso einschränkt.
Die Gestaltungsfreiheit jeder Führungspersönlichkeit tendiert in solchen Kompromiss-Pyramiden also trotz bester demokratischer Legitimation gegen null. Trauriges Musterbeispiel dieser Selbstlähmung war das Versanden des im Jahr 2003 begonnenen vielversprechenden Österreich-Konvents. Diese Versteinerungsdynamik von oben zu durchbrechen konnten nur Menschen mit wirklich außerordentlichem Charisma versuchen, wie Jörg Haider und Sebastian Kurz – ihr Scheitern an sich selbst hatte die Rettung der Kompromiss-Pyramide zur Folge.
Die vielen Wutbürger und der „Verlust der Mitte“ an rechte wie an linke Ränder zeigen, dass die Kompromiss-Pyramide sich bei allen historischen Verdiensten nun zur Barriere der Kommunikation zwischen dem Volk und der Regierung entwickelt hat. Die Lösung dieses Problems muss also von unten kommen, aber nicht in der klassischen Form der direkten Demokratie, sondern in offenen Diskursforen, die sich unter Umgehung von Teilorganisationen direkt in die legislative Ziel-Ebene einbringen – also in Parlament und Landtage.
Vorbild Irland
Die demokratiepolitische Ratlosigkeit, die nach der österreichischen Nationalratswahl am Sonntag kaum verschwinden wird, sollte daher Anlass sein, nach einem Wahlrecht zu suchen, das die Kommunikation zwischen unten und oben verbessert, indem der Wähler die Aussagekraft seiner Stimme wesentlich erweitern kann.
Das trifft besonders auf das Wahlrecht in der Republik Irland zu, das dem System „single transferable vote“ (STV) folgt: Dieses System beschreibt ein Verfahren, bei dem der Wähler zwar nur eine Stimme für einen Kandidaten abgeben kann, diese Stimme aber automatisch auf den (von ihm) nächstgereihten Kandidaten seines Wahlkreises übertragen wird, wenn der bevorzugte Kandidat die Stimme für seine Wahl nicht braucht (da er schon mehr Stimmen hat, als er nach der Wahlzahl für ein Mandat haben muss) oder nicht brauchen kann (da er insgesamt zu wenig Stimmen erhalten hat. Man kann also Kandidaten verschiedener Parteien reihen).
Durch diese Kandidatenreihung kann der Wähler seinen politischen Willen sehr differenziert ausdrücken; die Rolle der Parteien bei der Reihung ihrer Kandidaten tritt gegenüber dem Gewicht der Persönlichkeit der Kandidaten zurück, was die Rolle des Parlaments gegenüber der Regierung und ihren Kompromiss-Pyramiden wesentlich stärkt. Bei dem so gewählten Abgeordneten ist nicht nur die Bindung an seinen Wahlkreis außerordentlich stark, auch der fraktionsübergreifende Diskurs im Parlament fällt ihm leichter, da er sich an konkreten Parteiwechseln in der Reihung der Vorzugsstimmen orientieren kann. Mit diesem System ist Irland das EU-Land, das – als das frühere Armenhaus Europas – das Potenzial seines EU-Beitritts wohl am besten nutzen konnte.
Der Autor
Michael Breisky (*1940) war bis zu seiner Pensionierung österreichischer Berufsdiplomat, von 1993 bis 1999 war er Botschafter in Irland. Zuletzt erschienen: „Europa verstehen und lieben lernen“.