„Die Presse“ in Wien veröffentlichte am 11. August 2024 meinen Gastbeitrag unter dem Titel „Zur Neubelebung der Zivilreligion“. Da der Beitrag von der Redaktion gekürzt wurde, folgt er hier in seinem vollen Wortlaut:
Zur Neubelebung der Zivilreligion
Von Michael Breisky
Was Christian Ortner in der “Presse” vom 2. August 2024 als atheistisches Kulturchristentum beschreibt, kann man in einem Diskurs nachlesen, der schon 2004 geführt wurde: nämlich zwischen Marcello Pera, dem zum liberalen Flügel der Berlusconi-Partei gehörenden italienischen Philosophen, bekennenden Atheisten und Präsidenten des italienischen Senats, und dem damaligen Kardinal Joseph Ratzinger, langjähriger Präfekt der römischen Glaubenskongregation – und ein Jahr später als Benedikt XVI zum Papst gewählt.
Wie dieser Diskurs im Buch “Ohne Wurzeln – der Relativismus und die Krise der Europäischen Kultur” (Sank Ulrich Verlag, Augsburg) geschildert wird, haben die beiden in zwei unabhängig voneinander entstandenen Beiträgen und dem anschließenden Briefwechsel erstaunliche Übereinstimmungen über die Grundlagen einer menschenwürdigen Gesellschaft der Zukunft erzielt: nämlich die Notwendigkeit einer Neubelebung der christlichen Wurzeln Europas. Pera bezeichnet die Offenbarung Christi als „Faktum“: Man könne zwar bestreiten ob und wie sie als solche stattgefunden hat, aber ihre Aussagen seien nun da und unveränderbar; als solche seien sie daher „wahr“. Dieses auf die Würde jedes Menschen zielende Faktum finde aber auch in einer rationalen Argumentationskette Bestätigung, die sich auf die Natur, Evolution und Vernunft stützt; so könne man auch ohne Religion – nun also „bottom up“ im Gegensatz zur “top-down“ Argumentation des Gottesglaubens – zu den politischen Werten Europas und dem zusammenfassenden Begriff der Würde des Menschen kommen.
Mit ausdrücklicher Zustimmung Ratzingers setzt sich Pera für eine Zivilreligion ein, die die christlichen Wurzeln Europas in ihren politischen Aussagen (wieder-)belebt; „man müsse so tun, wie wenn es Gott gebe„. Eine solche Zivilreligion fördert kulturelle Grundwerte, wo dies durch Trennung von Kirche und Staat notwendig wird. Diese Zivilreligion ist also (laut Wikipedia) “der religiöse Anteil einer politischen Kultur, der notwendig ist, damit ein demokratisches Gemeinwesen funktioniert“. Sie ist insoweit „zivil“, als eben auch nicht-religiöse Elemente einer Kultur Identität stiften oder nachhaltige Akzeptanz schaffen können – Dinge, die gerade das heutige Europa dringend braucht. Dass Jürgen Habermas auf seine alten Tage der Religion mehr Erfolg in der Betreuung ihrer Anhänger konzediert als den rationalen Humanisten, gehört freilich auch zur Sache!
Hier Pera und Ratzinger sinngemäß zusammenfassend, kann heute als treibende Kraft gesehen werden, was in der Präambel zum EU-Vertrag von „dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas“ gesagt wird (Achtung: Erbe steht hier im Singular, drückt also seine Einheit aus!): Es inspiriert „die unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen sowie Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit als universelle Werte”. Freilich relativieren die beiden Autoren dann auch die Universalität der Werte, wo sie gegen wichtige äußere Rahmenbedingungen anderer Kulturen verstoßen; alle diese Kern-Werte einer Kultur und ihre geographisch wie historisch bedingten Rahmenbedingungen verhalten sich eben wie Inhalt und Gefäß – nicht alles darin ist ohne weiteres austauschbar, es gibt da unverhandelbare Grenzen, wie in der Physik und Chemie.
Die unveräußerliche Würde des Menschen ergibt sich also aus dem christlich-humanistischen Gedankengut. Um dessen gegensätzliche Zweisamkeit zu verdeutlichen, sei auf die Form antiker Groß-Pyramiden verwiesen: Einige, wie in Gizeh, haben eine gemauerte Punkt-Spitze; andere, wie in Mexiko, enden kurz davor in einer kleinen horizontalen Fläche – bei beiden richtet sich das gesamte Baugeschehen jedoch in gleicher Weise ganz nach dem perspektivischen Fluchtpunkt.
Beiden Autoren sehen – schon vor zwanzig Jahren! – den Niedergang Europas als Folge der Pervertierung des Toleranz-Gedankens. Dieser stellt die wohl wichtigste Konsequenz der Menschenwürde dar und wurde nicht zuletzt als Folge zweier Weltkriege zur offiziellen Doktrin Europas. Doch nun will man hier übersehen, dass wahre Toleranz – wie das lateinische tolerare sagt – mit “ duldenden Unlustgefühlen” über die Leugnung oder Ablehnung der eigenen Wahrheit verbunden ist – denn diese hat man sich ja mit einigem intellektuellem Aufwand gebildet. Die Lehre des II Vatikanischen Konzils ins Maßlose übersteigernd, dass auch in anderen Religionen „einzelne Elemente der Wahrheit” enthalten sind, relativiert man nun „schmerzfrei“ den Wert der eigenen religiösen Überzeugung und deutet den geforderten Respekt vor anderen Bekenntnissen fälschlicherweise so, dass alle Religionen auch subjektiv als gleichwertig anzusehen sind, weil sich ja keine wirklich objektive Wahrheit erkennen lässt.
Kurz: die eigenem Werte Europas verkümmern durch ihre Relativierung zusehends, und in dieses geistige Vakuum stoßen die äußeren und inneren Feinde eines demokratischen und wohlhabenden Europa, die mit seiner Würde des Menschen nichts anzufangen wissen. Das haben Pera und Ratzinger schon vor zwanzig Jahren gesehen! So meinte Ratzinger damals: die Welt sieht dann so aus, dass „das Wahre nicht mehr existiert, die Übermittlung von Wahrheit als Fundamentalismus betrachtet wird und schon das Beharren auf der Wahrheit Ängste und Befürchtungen weckt“. Er und Pera rufen daher zur aktiven Verteidigung der europäischen Werte auf: immer wieder durch geduldigen und aktiv gesuchten Diskurs – und wo dieser abgelehnt wird, mit passiver Resistenz zu reagieren, wo versucht wird, mit Zwang gegen diese Werte zu handeln.
Und noch kürzer: mit einer Zivilreligion kann es gelingen, dass die ängstlich gewordenen Europäer wieder stolz darauf sind, die Würde jedes Menschen nicht nur erdacht zu haben, sondern auch weiter danach leben zu wollen und zu können
Michael Breisky ist österreichischer Botschafter i.R. und Autor, kürzlich erschien in kleiner Auflage sein jüngstes Buch „Europa verstehen und lieben lernen“.
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Das hier angesprochene Buch ist im April des Jahres als „Versuchsballon“ zum Europa-Thema erschienen, und der vorliegende Beitrag ist die Kurzfassung eines neuen Essays, das in eine überarbeitete Verlagsausgabe des Buches eingebaut werden soll.