Kommentar von Michael Breisky,
veröffentlicht im Internet-Magazin LIBRATUS am 2. Mai
2025:
Der „Untergang des Abendlands“ wird laut Oswald Spengler Folge von maßlosem Skeptizismus sein, und nach den Evangelien wird vor den letzten Tagen große Verwirrung herrschen – das gibt heute zwar wenig Anlass zu Optimismus, trotzdem sei hier frei nach Martin Luther ein gedankliches Apfelbäumchen gepflanzt.
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Die wesentliche Ursache für die Düsternis unserer Tage beschreibt schon 2017 der britische Soziologe Colin Crouch: Es ist der aus allen Bereichen des politischen Spektrums kommende Widerstand gegen die „kompromisslose Aufklärung“ der Globalisierung, vor allem durch den Nationalismus. Wie schwierig das Regieren geworden ist, sieht Crouch bei den Bündnissen zwischen Neo-Liberalen und Konservativen: Letztere müssen der Versuchung widerstehen, Vorteile aus fremdenfeindlichem Enthusiasmus zu ziehen – oder die Neoliberalen haben Fremdenfeindlichkeit zu akzeptieren.
In der Sozialdemokratie hingegen wackelt die traditionelle nationale Grundlage ihres Universalismus sowie die Verteidigung der (männlichen?) Gemeinschaft der Arbeiterklasse. Hinter diesen Spaltungen sieht Crouch den nach wie vor lebendigen Zwiespalt zwischen Ancien Regime und Aufklärung.
Gegensatz Glaube und Wissen
Mit diesem letzten Punkt spricht Crouch offenbar auch den ähnlichen Gegensatz zwischen Glauben und Wissen, Idee und Wirklichkeit, Bewahrung und Veränderung an; er ist Voraussetzung eines produktiven Spannungsverhältnisses zu der – womöglich sogar genetisch vererbten – Binarität im menschlichen Denken. Die großen politischen Strömungen der letzten 300 Jahre haben sich ja immer wieder auf die Aufklärung berufen: Nationalismus, Demokratie, Freihandel und Imperialismus; dann nach der Zäsur von Faschismus und Weltkriegen die Demokratie wiederbelebt und ergänzt um materielles Wachstum, Globalisierung, islamische Migration, Ökologisierung und Abbau der westlichen Führungsrolle.
Alle diese Strömungen konnten aber durch Aufklärung und Verstandeswissen nicht voll abgedeckt werden, man musste den Nachfahren des Ancien Regime stets wesentliche Zugeständnisse machen. Denn dieses Alte mag damals mit der Allianz von Thron und Altar höchst kritikwürdig gewesen sein, doch hat man daran mit allen seinen dunklen und hellen Teilen als ganzheitliche (!) Vergleichs-Referenz „geglaubt“ – und tat das später sehr ähnlich bei neueren Regierungsformen. Nur mit diesem Rückgriff konnten die Lücken des aufgeklärten Wissens abgedeckt werden! Wissen ist ja seinem Wesen nach reduktionistisch, weil es sich – „ceteris paribus“ annehmend – nur auf bewusst registrierte Fakten stützt.
Umgang mit Binarität
Der Westen ist bis heute stolz darauf, mit solchen Zugeständnissen den demokratischen Diskurs als optimale Form des Umgangs mit der Binarität entwickelt zu haben. Leider ist dieser heute höchst störungsanfällig geworden: Zum einen haben technischer Fortschritt und Globalisierung die Komplexität unserer Gesellschaft extrem gesteigert. Zum andren sinken gleichzeitig in unserer Spaßgesellschaft die Aufmerksamkeits-Spannen (dank Dauer-Unterhaltung, sozialen Medien und Konsumwerbung). Dass alles so schrecklich kompliziert geworden ist, hat Bundeskanzler Sinowatz schon 1983 beklagt.
Diese Überforderung hat eine Eigendynamik entwickelt, die die Grundfesten von Demokratie und produktiver Binarität erschüttert: Wo bisher mit Fakten möglichst wertfrei argumentiert wurde, stützen sich Diskutanten immer mehr auf Schlagworte; diese haben zwar meist einen wahren Kern, ignorieren jedoch schon den engeren Kontext, ganz zu schweigen von ganzheitlichen Sichtweisen. Problemlösungen allgemein verständlich zu machen, misslingt daher öfter, als es repräsentativer Demokratie guttut. Die Folge sind Misstrauen, Eliten-Kritik und Verschwörungstheorien.
Gemeinsamkeit von EU ignoriert
Binarität ist umso produktiver, je mehr sie sich im Rahmen der übergeordneten Gemeinsamkeit von Verfassungsgrundsätzen bewegt. Leider sind auch diese dabei zu verblassen: Die Stärkung der kulturellen Identität Europas durch Popularisierung der vielen kulturellen Gemeinsamkeiten wird von der EU bis heute (zielbewusst?) ignoriert; und an Stelle von wahrhafter Toleranz wurde viel zu lange Multikulti gepredigt, ihre wertfreie Beliebigkeit zerstört sinnvolle Orientierung, schaff also Chaos.
Nicht nur für Rationalisten bedeutet diese Unkultur im Diskurs das totale Chaos. Auch Brandmauern können hier nur helfen, wenn ein einfach zu erklärendes Prinzip gefunden und anerkannt wird, das über allen gesellschaftlichen Binaritäten steht. Diese Qualitäten erfüllt die unverlierbare, jedem Menschen angeborene Würde: Durch die mit der Selbst-Relativierung gegenüber den Anderen entsteht höchstes Ableitungs-Potential.
Erstmals vom christlichen Humanisten Giovanni Pico de Mirandola Ende des 15.jahrhunderts formuliert und dann in klösterlichen Studien theologisch vertieft, wurde die Menschenwürde vom Rationalismus der Aufklärung in die Rechts-Philosophie und Politik geholt. Danach brachten rationaler Humanismus und christliches Naturrecht ihre jeweilige Anhängerschaft in einen tiefen Gegensatz der europäischen Geistesgeschichte, der viele Generationen meinungsbildender Schichten in nutzlosen Streitereien gefangen gehalten hat. Denn erst 2004 fanden Spitzenvertreter beider Seiten zu einander.
Giovanni de Mirandola (1469-1533), Porträt eines unbekannten Künstlers. © CommonsWikimedia.
Dies geschah im Dialog zwischen (damals noch) Kardinal Joseph Ratzinger und dem prominenten Atheisten Marcello Pera, Präsident des italienischen Senats, indem sie den Gegensatz in Ableitung der Menschenwürde überwanden: Während das Christentum in einer top-down-Argumentation sie als Ausdruck der allen Menschen zukommenden Liebe Gottes versteht, argumentiert der (agnostische) rationale Humanismus bottom-up mit Vernunft und der biologischen sowie kulturellen Evolution des Menschen (für Pera steht dem nicht entgegen, dass der Text der Bergpredigt Jesu höchste Wahrheit ist). Erst mit diesem Dialog findet die Menschenwürde auch die übereinstimmende Anerkennung als das wichtigste Fundament zeitgemäßer europäischer Identität.
Bedeutung von Menschenwürde
Die Bedeutung der Menschenwürde liegt in der Kombination des eigenen Anspruchs auf Würde mit gleichzeitiger Selbst-Relativierung vor der gleichwertigen Individualität des Anderen. Sie zu erkennen und zu respektieren kann über die üblichen Unterlassungsgebote der Rechtsordnung hinaus auch „je nach Anstand“ ein aktives Handeln verlangen („was Du willst, das man Dir tu, das tu auch einem Andern“. Dieses Tun erfordert freilich ein gewisses Naheverhältnis – womit schon eine pragmatische Unterscheidung zwischen Nächstem und Fernsten angesprochen wird, die auch jenseits von Brandmauern gelten sollte!
Die Menschenwürde gibt auch Antwort zu Verfassungsfragen: So etwa zur Frage nach den „Dingen“ des „Böckenförde-Dictums“: sie ist es, wonach „der liberale Verfassungsstaat ‚Dinge‘ voraussetzt, die er selbst nicht garantieren kann“. Lange wurde dieses Diktum bestritten, weil auch (für viele vor allem) die Religion zu diesen Dingen gehören müsste – nun ist das wohl geklärt. Wenn überhaupt die gesamte gesellschaftliche Ethik von der Menschenwürde abgeleitet werden kann, dann ist es nur ein kleiner Schritt, sie im Sinne des großen Rechts-Positivisten Hans Kelsen als Inhalt der – von ihm nur als abstrakte Fiktion gedachten – „Grund-Norm“ anzuerkennen, die an der Spitze des Stufenbaus aller Rechtsordnungen steht.
Wenn mit der Menschenwürde ein Verzicht auf Transzendenz in sekulärer Politik möglich wird, so können sich im übrigen Christen mit dem Evangelium nach Matthäus trösten : „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan!“ (Mt 25,41).♦