Der demokratische Diskurs in der Krise

 

Die Krise der Gesprächsbereitschaft zerstört die Demokratie

Es muss wohl rund um die Corona-Pandemie und ihre Bekämpfung gewesen sein: rund um Wunder-Kuren und Impfpflicht wurde der Glaube an eine wesentliche Voraussetzung für Demokratie bis ins Mark erschüttert: nämlich die Fähigkeit von Diskurs und Vernunft, zumindest theoretische Lösungen gesellschaftlicher Probleme erreichen zu können. Eine allgemeine Diskurs-Verweigerung begann nicht nur in Europa um sich zu greifen; in politischen Wahlen erhalten Populisten und Radikale mit irrealen Forderungen immer mehr Zuspruch; und in der politischen Mitte erschallt der Ruf nach Barrieren, die ihr weiteres Schrumpfen aufhalten sollen. Während von den Rändern her gegen eine solche Ausgrenzung protestiert wird, herrscht in der Mitte eher ratlose Uneinigkeit: Pessimisten glauben fest an die Notwendigkeit eines Schutzwalles der Demokratie, während Optimisten die Kritik der Radikalen an der Ausgrenzung schon als Diskurs-Bereitschaft deuten. Es ist wohl mit Händen zu greifen, dass hier eine Kernfrage zur Zukunft der Demokratie Europas angesprochen ist.

Gestützt auf das anschließend näher ausgeführte Essay „Krise und Kritik des verständigungsorientierten Diskurses“ erlaubt die aktuelle Situation einige Schlussfolgerungen zu Sinn und Unsinn der Barrieren:

  1. Diskurs-Verlust durch soziale Medien: Die zivile Streitlust, von der Europas Demokratie mit der an Verständigung orientierten Diskurs-Theorie Jürgen Habermas‘ zehrt, ist einem zunehmend unversöhnlichen Kulturkampf gewichen: durch durch Internet und Soziale Medien ist eine unüberschaubare Fragmentierung der Diskurs-Plattformen entstanden, keine Plattform besitzt nun genug Offenheit, um einen repräsentativen Diskurs zu ermöglichen. So haben sich vor allem an den Rändern demokratischer Meinungsvielfalt Blasen entwickelt, die als Echo-Kammern den Dissens pflegen und kein Interesse an Diskurs und einvernehmlichen Problemlösungen haben.
  2. Das methodische Hufeisen der Extreme: Auffallend ist die Übereinstimmung in der politischen Methodik trotz radikaler Gegensätzlichkeit im Inhaltlichen; also am linken, woken bzw. identitätspolitishen Rand und am rechten, anti-modernen bzw. Heimat-bewussten Rand des politischen Spektrums:
  3. Beide Ränder klagen lautstark über Ausgrenzungen durch die politische Mitte, sind tatsächlich aber selbst an solchen Barrieren interessiert, da die prozedurale  Diskussion über die Berechtigung  der Ausgrenzung die inhaltlichen Gründe für die Ablehnung zu überlagern pflegt und dadurch den „Ausgesperrten“ den Anschein der Legitimität verleiht. So spielt die der Mitte angelastete Diskurs-Verweigerung den Echokammern in die Hände.
  4. Die politische Mitte steht vor dem Dilemma, dass der Übergang von ihr zu den Rändern im realen Alltagsleben fließend ist; also eine scharfe Abgrenzung zu dem gerade noch rechts-konform argumentierenden „Populisten“ einerseits und der abzulehnenden, weil   extremistischen Haltung andererseits, die auch Verfassungsbruch befürwortet. Gerade bei dem „gemäßigten“ Teil der Ränder schadet die Errichtung von Barrieren enorm, da hier der demokratische Diskurs noch die besten Erfolgs-Chancen hat.
  5. Der Zeitfaktor: Aus dem folgt, dass die Errichtung einer Barriere nur dann demokratie-politisch sinnvoll sein kann, wenn die politische Mitte gute Aussichten hat, die inhaltlichen Gründe der Spaltung rasch zu lösen, also tunlichst noch vor dem nächsten Wahlgang. Solche Spaltungsgründe sind heute freilich sehr selten…

Wie mit der Krise umzugehen ist, beantworten diskurs-theoretische und radikale Ansätze unterschiedlich. Während letztere auf ungebrochenen Dissens setzen, besteht bei ersteren nur insoweit Einigkeit, als atmosphärische Verbesserungen angezeigt sind, um überhaupt ins Gespräch zu kommen. Diese allein können jedoch nur mildernd wirken. Deutlich bessere Erfolgs-Chancen sollte die emphatische und persönliche Anerkennung der anzusprechenden Diskurspartner sein, bevor der eigene Standpunkt in völliger Klarheit dargelegt wird. Ansätze dafür sind:

  • Möglichst früh die allen Menschen zukommenden Würde als Gesprächsgrundlage ansprechen, wie sie von atheistischen Eliten und Christen, aber auch ganz zentral im EU-Vertrag anerkannt wird – und aus der sich alle demokratischen Werte ableiten lassen. Das sollte insbesondere in Reaktion auf persönliche Beschuldigungen helfen.
  • Problemdarstellungen möglichst auf die lokale Ebene herunterbrechen, wo es leichter fällt, monokausale Problemdarstellungen in ganzheitliche Sicht aufzulösen. Damit kann die fehlende Glaubwürdigkeit von Radikalismen schon an ihren absehbaren Nebenwirkungen dargestellt werden. Barrieren auf lokaler Ebene erweisen sich also als besonders schädlich.
  • Schließlich sollte es gerade die politische Mitte sein, die angesichts der sich beschleunigenden Komplexität anhängender politischer Fragen – einschließlich ihrer Verquickung von lokal und global – Themenführerschaft bei der überfälligen Überarbeitung der repräsentativen Demokratie übernimmt. Als Ausgangspunkt des dazu notwendigen überparteiischen Diskurses empfiehlt sich insbesondere die Erarbeitung von Kriterien für die Wahl in allgemeine Vertretungskörper, die durch verbessertes systemisches Denken der persönlichen Aufgeschlossenheit für Komplexität mehr Gewicht einräumt.

 

Die Originalfassung (mit 16 Minuten Lesezeit) des erwähnten Essays der deutschen Politik-Wissenschaftler:innen Simone Jung und Victor Kempf wurde u.a. veröffentlicht unter

https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/diskurskultur-2023/541845

Nachstehend eine Kurzfassung dazu:

I

Mit dem Ende des Kalten Krieges und einer allgemeinen Liberalisierung des gesellschaftlichen Klimas schien die gesellschaftliche Verständigung über das Allgemeinwohl, bei aller Differenz in weltanschaulichen Fragen, immer mehr möglich. In dieser optimistischen Phase schien es realistisch, die Pluralität und Streitlust moderner Gesellschaften zu bewahren, ohne auf eine diskursiv erzielte und stets im Prozess befindliche Einigkeit zu verzichten. Die Differenzen, so der allgemeine Eindruck, ließen sich auf dem Wege der Diskussion friedlich ab- und ausgleichen.

Mit den gegenwärtigen medialen Transformationen sowie neuen gesellschaftspolitischen Konflikten ist die Selbstsicherheit der liberal-demokratischen Hegemonie jedoch infrage gestellt. Konfligierende Perspektiven und miteinander konkurrierender Hegemonien offenbart neue Kulturkämpfe, in denen jede Ordnung der Kultur selbst zur Disposition steht.

Diese Krise ist nicht von den Entwicklungen der Digitalisierung zu trennen. Das Internet hat die Art und Weise, wie allgemeine Problemlagen sichtbar und Konflikte ausgehandelt werden, maßgeblich verändert. Vor allem die sozialen Medien haben neue Möglichkeiten der Partizipation etabliert, eine Vielzahl von Gegen- und Teilöffentlichkeiten hervorgebracht. Beobachter sprechen von einer Fragmentierung und Polarisierung des öffentlichen Raums, die durch die sozialen Medien massiv befördert würden und zur Bildung von „Filterblasen“ und „Echokammern“ führten. Mit der Sorge um eine „Verrohung“ der Debattenkultur wird nun der Ruf nach einer rational geführten Diskussion jenseits von „Erregungskulturen“ lauter.

II

Der nun erneut geforderte „verständigungsorientierte Diskurs“ Jürgen Habermas‘ hatte vor allem in den 1980er und 1990er Jahren Konjunktur. Später haben vor allem „post-strukturalistische“ Perspektiven diese Konsensorientierung kritisiert und den Dissens in den Vordergrund gerückt. Die Differenzen haben sich in einem zunehmend unversöhnlichen „Kulturkampf“ radikalisiert. Sowohl seitens rechtspopulistischen Bewegungen als auch linker Identitätspolitiken prallen also Weltdeutungen und Vorstellungen des sozialen Zusammenlebens aufeinander, die sich nicht auf Basis eines allgemein geteilten lebensweltlichen Grundverständnisses zusammenbringen lassen. Das zeigt sich etwa im Verhältnis zu Klimaaktivist:innen oder den renitenten Verteidiger:innen „unseres Wohlstands“, aber auch den Impfgegnern und dem medizinischen Establishemt –  allen wissenschaftlichen Evidenzen zum Trotz. Es bestehen nun unterschiedliche Ansätze, wie mit diesen Konflikten umzugehen ist:

– einerseits wird beharrlich am verständigungsorientierten Diskurs festgehalten. Erst kürzlich hat der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) die identitätspolitisch aktiven Teile seiner Partei ermahnt, mehr Gemeinsinn walten zu lassen und die Verständigung mit der vermeintlichen Mehrheitsgesellschaft nicht zu verspielen. Das Verständigungsmotiv tritt hier besänftigend zutage, um ein (scheinbar?) bewährtes gesellschaftliches Einverständnis nicht in Gefahr zu bringen. Konflikte sollen, so scheint es, ausgespart werden, um Konsens zu sichern.

– auf der anderen Seite etablierte sich in den späten 1960er Jahren eine radikal antagonistische, offiziell „poststrukturalistisch“ genannte Diskurstheorie, die vor allem vom französischen Philosophen Michel Foucault geprägt wurde. Ein solcher Diskurs mit der anderen Seite (d.h. der „Mitte“) sei gerade nicht zu suchen, sondern vielmehr zu vermeiden. Er würde „den Anderen“ eine Bühne bieten und ihre Perspektive dadurch bereits legitimieren. Anstelle einer Verständigungssuche im gemeinsamen Diskurs tritt die dezidierte symbolische Demarkierung in Form von Sperrgürteln – die man auch Brandmauer nennen kann.

 Die schon von Antonio Gramscis angestrebte „kulturelle Hegemonie“ der „Poststrukturalisten“  soll also nicht in der diskursiven Auseinandersetzung verteidigt und erweitert werden, sondern unter klarem Diskurs-Verzicht durch Argumentation im Modus der schieren Selbstbehauptung. Spiegelbildlich gleicht dies der Diskursführung  der antimodernen Rechten.  So wird mit strategisch eingesetzten Narrativen die öffentliche Debatte rhetorisch auf eine gewünschte Weise „eingerahmt“. Dieser Ansatz erscheint offensiver, doch werden hier Konflikte ausgespart, die unbearbeitet vor sich hin gären und sich an anderer Stelle gewaltvoll zu entladen drohen.

III

Zwischen den „woken Kosmopoliten“ und den „rechtspopulistischen Bewahrern der Heimat“ liegen zwar Welten; doch aus Sicht der Demokratietheorie von Habermas sind beide Milieus weiterhin Teil eines gesellschaftlichen Zusammenhangs durch tatsächliche kommunikative Beziehungen. Überall kann es bei ihrer Testung zu Diskursen kommen, die nur deshalb hitzig geführt werden – oft mit Blockade oder Abbruch, um die eigene Position zu wahren – weil es in ihnen um das Prinzip der Verständigung geht. Folgt man dieser Diskurs-orientierten Deutung der gegenwärtigen Lage, so muss es darum gehen, genau jene mit Diskussionen zu konfrontieren, die sich durch „Lügenpresse“-Rufe und Verschwörungstheorien „verpanzern“,  um jeder Diskussion zu entgehen.

Dazu kann man einerseits weiterhin mit Jürgen Habermas von kommunikativen Sozialbeziehungen ausgehen, die sich für offene Diskussionen eignen; man muss aber erleben, dass diese dann durch den Rückzug in Filterblasen und aggressive Abwehrschlachten blockiert werden. Der Konflikt spitzt sich damit zu und gärt so weiter vor sich hin, bis er sich schließlich gewaltsam entlädt.

Die Alternative wäre andererseits, den verständigungsorientierten Diskurs mit dem politischen Widerpart zu forcieren, und zwar in Anerkennung des Anderen als Dialogpartner und gleichzeitig mit voller, mitunter schonungsloser Artikulation von Dissens. Denn nur derjenige Geltungsanspruch verdient allgemeine Anerkennung, der alle Einwände und Vorwürfe übersteht. Der emphatische Konsensbegriff eines verständigungsorientierten Diskurses stellt die politischen, sozialen und kulturellen Konflikte also gerade nicht still, wie es von radikaldemokratischer Seite behauptet wird, sondern stachelt sie an. Doch handelt es sich nach dieser Sichtweise um rational lösbare Konflikte, die wohl historisch aufbrechen, aber nicht immer schon am Grund aller politischen Ordnung stehen.

Als Mittelweg dazu wird mit Chantal Mouffe und anderen radikaldemokratischen Ansätzen zwar ein unauflösbarer Antagonismus zwischen widerstreitenden Vorstellungen von Politik und Gesellschaf festgestellt; der aber unter gewissen, historisch günstigen Umständen ruhiggestellt und vorübergehend in einen Agonismus umgewandelt werden kann.

Der Weg vom Antagonismus zum Agonismus stützt sich demnach nicht auf normative Vernunft, sondern auf die affektive Dimension: Bevor überhaupt wieder ein Streit geführt werden kann, der einem verständigungsorientierten Diskurs zumindest ähnelt, müssen Affekte und Identitäten rhetorisch generiert bzw. politische Forderungen gestellt werden, die zur politischen Teilhabe aufrufen und die unversöhnlichen Positionen miteinander in eine offene Konfrontation bringen. Die Wir/Sie-Beziehung als identitätsstiftende Kraft gilt es also nicht zu überwinden oder zu verschleiern, sondern auf eine pluralistische Weise zu etablieren, sie über den eigentlichen Streitfall hinaus öffentlichund zum Gegenstand politischer Debatte zu machen. Grundlage für die Schaffung eines agonalen Streitraums bildet der langwierige und vorrangige Prozess des Erkennens und Anerkennens der Andersheit des Anderen, auch wenn die Kontrahenten einsehen, dass es für den Konflikt keine rationale Lösung gibt.