Relevanz und Weiterentwicklung Kohrscher Thesen im politischen Umfeld der Gegenwart

2008 Vortrag: 

Relevanz und Weiterentwicklung Kohrscher Thesen im politischen Umfeld der Gegenwart

von Michael Breisky
Vortrag Österreichisches Forum Berlin, 16. Mai 2008

I Persönliches und Unbestrittenes

1.1. Erste Berührung mit Kohr im Rahmen der Südtirolpolitik, erklärt Vorzüge der regionalen Autonomie

Als Botschafter in Irland: Vorzüge der Kleinheit, aber erste Zweifel an Kohrs EU-Skepsis

Als Leiter der Amereika-Abteilung: habe 2002 BK Schüsssel auf Zitat Kohrs aufmerksam gemacht, das ein halbes Jahrhundert vor dem Irakkrieg geschrieben wurde; BK Schüssel reichte dies an BK Schroeder weiter:

„Die Auseinandersetzung zwischen den Großmächten würde sich zunächst auf einen Zweikampf der USA gegen das sowjetische Russland reduzieren, bei dem die USA letztlich siegreich bleiben würde. Kohr, der die USA liebte und ihre Staatsbürgerschaft angenommen hatte, sah diesem Moment jedoch mit größter Sorge entgegen. Er fürchtet, dass die US dann dem „täuschenden Mythos des Präventivkrieges“ erliegen würde; sie würde dann über schwache Gegner herfallen, nur mit dem „feierlich erklärten Ziel, (deren) Aggression zu verhindern“; denn die USA hätte dann eine kritische Masse von Macht, die „in ihren Händen explodieren“ würde. Dies ist für ihn unausweichlich, weil „keine Ideologie des Friedens, so tief sie auch in den Traditionen eines Landes verwurzelt sein mag, den Krieg verhindern kann, wenn einmal eine bestimmte Macht-Konstellation in Erscheinung getreten ist.“

1.2. Kohrs Thesen zu den volkswirtschaftlichen Mehrkosten über-großer Gesellschaften haben gerade in Zeiten der Globalisierung volle Geltung:

  1. a) Der kritische Punkt: Jenseits davon sinkt – bei weiter wachsender Größe einer Gemeinschaft – der Grenznutzen unter die marginalen Kosten des Inputs
  2. b) Umlaufgeschwindigkeit von Personen und Gütern: Ihr Ansteigen erhöht bei gleicher Bevölkerungszahl den Bedarf an Lebensraum
  3. c) „Luxometer-Theorie“: jenseits optimaler Gesellschaftsgröße verlieren freie Ermessensausgaben ihren Luxuscharakter und werden zu notwendigen „Dichte-Gütern“
  4. d) „Entwicklung ohne Hilfe“: Vorzeitige Beteiligung schwacher Volkswirtschaften an internationalem bzw. überregionalem Wettbewerb verschlechtern terms of trade; gleiche Wirkung hat vorzeitige Anwendung industrieller Hochtechnologie, da die sozialen Kosten ihrer Integration zu hoch sind.

II Eigene Arbeiten: Buch „Kompass im Kopf“ war Versuch, Kohr unter christlichen Vorzeichen à-jour zu bringen; 1998 geschrieben, 2003 publiziert, jetzt Engl. Überarbeitung. Wichtigste Punkte:

Wenn Überschaubarkeit der Grund für Überlegenheit kleiner sozialer Einheiten ist;

II.1 wie funktioniert Überschaubarkeit „im Kopf“ des Menschen?

Angeregt durch Hoimar v. Ditfurths „Der Geist fiel nicht vom Himmel“ beschäftigt mit biologischer Evolution des Gehirns: hat 2 Systeme der Informationsverarbeitung:

  1. a) das urtümlichere System dient der unreflektierten Reaktion auf Vorgänge in der Außenwelt, um biologische Ur-Funktionen („4 F“: feed, flight, fight, fuck) auszulösen oder zu beenden. In der Summe tausender ständig parallel hereinkommender Sinneswahrnehmungen entsteht ein ganzheitliches Bild der Außenwelt, das laufend mit memorierten Erfahrungsmustern verglichen wird. Stimmen die Sinneswahrnehmungen mit dem überein, was sich erfahrungsgemäß für das Ein- oder Ausschalten biologischer Funktionen bewährt hat, so münden die Sinneswahrnehmungen in einem Impuls an das ganze Individuum entsprechend zu handeln.
  2. b) das „neue“ System der reflektierenden Informationsverarbeitung ist die Instanz der höher entwickelten Spezies zur Kontrolle dieser Impulse. Diese Impulse dringen als „etwas Bemerkenswertes“ ins Bewusstsein und werden dort „überlegt“, d.h. je nach unserem Wollen abgelehnt, verschoben oder mit bewussten Abschwächungen bzw. Verstärkungen in ein entsprechendes Handeln überführt. Beispiele….

Beide Systeme funktionieren wie ein gut eingespieltes Einbrecher-Duo: Einer späht aus und steht Schmiere, während der Spezialist seine ungeteilte Aufmerksamkeit Türschlössern und Mauer-Safes widmen kann. Wesentlich an dieser Arbeitsteilung ist, dass auch das Schweigen des Spähers das Resultat wichtiger Arbeit ist: die Gewissheit, dass tausende mögliche Gefahren mit negativem Resultat geprüft wurden, also nichts Bemerkenswertes vorliegt,   erlaubt dem Spezialisten davon auszugehen, dass bis zum ausdrücklichen Widerruf durch seinen Kumpanen „die Luft rein ist“, also „no news is good news“. Die Menschen im Zeitalter der Globalisierung müssen allerdings bedenken, dass die Kapazitäten der beiden Systeme von der biologischen Evolution auf dem Niveau stehen gelassen wurde, das für die Bedürfnisse unserer Vorfahren in der Alt-Steinzeit angemessen war: die Kapazität des reflektierenden System ist demnach sehr schwach, während das urtümliche System vergleichsweise – in Bytes pro Sekunde ausgedrückt – das milliardenfache davon schafft.

Dieser Kapazitätsunterschied birgt das große biologische Dilemma unserer Zeit: Jenseits unseres Gesichtskreises, wo „ no news“ schlicht und ergreifend nur pure Ignoranz bedeutet, versuchen wir zwar tapfer, mit der kapazitätsschwachen Reflexion Späher-Aufgaben zu übernehmen und bewusst nach „Bemerkenswertem“ zu suchen; wir neigen aber letzten Endes immer noch dazu, unserer Natur folgend ein Schweigen als „good news“ zu deuten. Und ist einmal unser Reflexionsvermögen durch das „in-die Ferne-Spähen“ oder die Zwänge der Informationsgesellschaft erschöpft und – um die Computersprache zu verwenden – ein data-overload eingetreten –  so stürmen innerhalb unseres Gesichtskreises  noch immer Handlungs-Aufforderungen des unreflektierten Systems auf uns ein. Wir folgen ihnen dann nur allzu oft „unüberlegt“ – wichtigstes Beispiel dafür ist wohl die allgemein zunehmende Fremdenfeindlichkeit als Symptom für den Verlust der Neugier. Daher ist die Rückkehr zu Kohrs Menschlichem Mass in neuer Weise gefordert.

Aber zurück zur Überschaubarkeit: Sie bedeutet demnach, dass einem rechtzeitig und unaufgefordert „alles Bemerkenswerte“ zugetragen wird; und damit die sprachlich-abstrakten Reflexion zur Informationsverarbeitung trotz schwacher Kapazität nicht überlastet wird. Das funktioniert nicht nur im holistischen Bereich der direkten Sinneswahrnehmungen: es klappt auch im holistischen Bereich des dörflichen „Sozialen Raums“, wo es durch die gute Grundkenntnis der örtlichen Gegebenheiten einerseits und die Vielzahl und Vielfalt „herumschwirrender“ Informationen andererseits durchaus möglich ist, sich aus kleinsten Informationsfetzen in praktikabler Zeit ein ordentliches Bild zu machen. Und es funktioniert auch in überregionalen Institutionen, wo der reibungslos funktionierende Feedback einerseits und der sachlich begrenzte Aufgabenkreis andererseits ein quasi-holistisches Verständnis samt automatischem Zutragen von „allem Bemerkenswerten“ ermöglicht.

Wie auch immer, wir müssen lernen, mit der begrenzten Kapazität unseres reflektierenden Denkens hauszuhalten; die Gefahr der Überforderung der Reflexion verlangt demnach etwas, das ich „Economy of the Mind“ nenne; dazu ist eine Analogie aus der Computer-Sprache hilfreich:

  • der hardwareentspricht, dass die begrenzte Kapazität des Gehirns geographische Nähe verlangt, wo die Überschaubarkeit am besten gegeben ist;
  • der softwareentspricht Kulturelle Ordnung bzw. Orientierungsfähigkeit, da sie die Reflexion wesentlich erleichtert;
  • der powerentspricht ein geringer Zeitdruck; er fördert die Regenerierungsfähigkeit der Neugier; womit auch das Zeit/Leistungsverhältnis angesprochen wird.

Wie bei Computer ist wechselseitige Substitutionsfähigkeit dieser drei Faktoren möglich, aber nur in begrenztem Rahmen. Daher: Multi-Kulturelle Globalisierung in Echtzeit ist unmenschlich!

II.2 Was ist Kohrs Skepssis gegenüber der Europäischen Integration entgegenzuhalten?

Kohr ging davon aus, dass die europäische Integration den Weg zum einheitlichen Superstaat einschlagen werde, was zu einer Marginalisierung der Kleinen sowie zu Effizienzverlusten führen und auch unethischen Machtmissbrauch nach sich ziehen würde. Diese Prognose hat sich nicht erfüllt bzw. sind drei Entwicklungen eingetreten, die Kohr nicht vorhersehen konnte und die vermutlich seine Skepsis aufgelöst hätten:

a)Auch wenn die EU in einzelnen Sachbereichen – wie etwa im Wettbewerbsrecht -Zentralstaats-ähnliche Effektivität entwickelt, ist bisher weder in Sicht, dass die EU insgesamt oder in den klassischen Kernaufgaben des Staates (Sicherheit nach innen und außen) zentralstaatliche Effektivität entwickeln wird; oder dass die kleinen Mitgliedstaaten von den Grossen an die Wand gedrückt werden.

  1. b)Eine riesige Überraschung hat die Revolution der Informationstechnologie mit sich gebracht: wohl hat sie dazu beigetragen, Menschen über größte Entfernungen hinweg einander näher zu bringen; viel größer ist jedoch ihr Effekt im Lokalen, wo sie zu einer vergleichsweise viel stärkeren Verdichtung der Kommunikation geführt hat.  Dies erklärt auch, warum kleine EU-Staaten – so sie über ein entsprechendes Ausbildungsniveau und  korruptionsfreie Verwaltung verfügen –  sich im Binnenmarkt der EU eindeutig am besten schlagen: Die Reihe der höchsten Pro-Kopf-Einkommen in der alten EU der 15 Staaten wird nun von Luxemburg und Irland angeführt, den beiden kleinsten Ländern; die nächsten 4 Plätze gehen an weitere eher kleine Länder wie Dänemark, Finnland, Österreich und die Niederlande – und keiner der EU Grossen konnte in den letzten Jahren sein Ranking verbessern (ähnlich auch die Lage bei den 12 neuen EU-Mitgliedern: auch hier liegen die Kleinen wie Estland, Slowenien, Zypern und Litauen vor den Grossen).  Noch klarer zeigt dies das Beispiel Liechtensteins: selbst nach Abzug des nun in die Schlagzeilen gelangten Off-Shore-Sektors, der mit rund ein Viertel zum BNP beiträgt, ist dieser Mikro-Staat durch die Kombination des freien Zugangs zum großen Markt des EWR und den Informationsvorteil maximaler Überschaubarkeit eines der reichsten Länder der Welt – und das ist dasselbe Land, das noch vor 100 Jahren seine Kinder kaum ernähren konnte und sie  deshalb im Sommer ins Ausland zum Vieh-Hüten schicken musste!

c)Eine andere Überraschung ergibt sich – eher unbeabsichtigt – aus institutionellen Zwängen, die Täuschungsmanöver und egoistische Durchsetzung von Partikularinteressen weitgehend verhindern; es sind dies: die Erfordernisse qualifizierter Mehrheiten; die hohe Anzahl von Akteuren (die die spieltheoretische Spekulation und Kalkulation von Reaktionen der Partner behindert); der  – etwa im Vergleich zu den USA – geringe Termindruck aus Wahlen und ähnlichen prozeduralen Zwängen, die sich sonst leicht instrumentieren ließen; und schließlich die auch in der Praxis strikt gehandhabte Abkoppelung der Bestellung von EU-Organen von Einflussnahmen durch Lobbies. Insgesamt ist dies eine in der Menschheitsgeschichte einmalige und höchst positive Entwicklung, der auch Kohr sicherlich zugestimmt hätte.

II.3 Und was sind die politischen Schlussfolgerungen aus dieser Weiterentwicklung Kohrscher Thesen?

Die Einsichten über das Wesen der Überschaubarkeit bestärken nicht nur Kohrs Thesen über die Vorteile kleiner politischer Einheiten. Sie erlauben es auch, das missing link zwischen dem Kohr’schen Ideal einer in unzählige Kleinstaaten zerfallenden Welt und den Realitäten der Globalisierung herzustellen, wo für viele globale oder kontinentale Probleme ein gemeinsamer Lösungsansatz gefunden werden muss. Wenn das im Einklang mit Kohr keine am Nationalstaatsmodell orientierte Weltregierung sein darf, aber zumindest eine Art von über-nationaler Clearing-Stelle; dann müssen Institutionen die Transmission zwischen der lokalen und der globalen Ebene übernehmen, die dem Prinzip der Überschaubarkeit zumindest nicht im Wege stehen; sie müssen also in der Lage sein, zumindest in ihrem Sachbereich allen Mitspielern „rechtzeitig und unaufgefordert alles Bemerkenswerte“ zuzutragen, womit sie „oben“ und „unten“ für eine „quasi-holistische“ Sicht der Dinge sorgen. Dieses Missing link wären NGOs und ähnliche Spezialorganisationen mit breit gestreutem Feed-back, das hinauf wie herunter reibungslos funktioniert.

Dass die klassischen Nationalstaaten hier überfordert sind, solange sie ihren Anspruch auf umfassende Regelungskompetenz nicht aufgeben, sollte auf der Hand liegen: Zeigt doch die aktuelle Entwicklung in den drei wichtigsten Problembereichen der Politik – nämlich den drei „A“s der Arbeitsplatzsicherung, Altenbetreuung und Ausländer-Integration – dass die (noch immer unzureichenden) Erfolge trotz Unsummen von unproduktiv gebliebenen Steuergeldern fast ausschließlich von privaten Organisationen, NGOs, Bürgern und KMUs,  nicht aber von staatlicher Seite erzielt wurden.

Der im Menschlichen Mass bleibende Rahmen der Politik wird also – ganz im Sinne Kohrs – an der Basis die kleinräumigen Strukturen von starken regionalen Autonomien und Kleinstaaten haben müssen. Parallel zu diesen horizontal strukturierten Gemeinschaften auf regionaler Ebene hätte auf globaler oder zumindest kontinentaler Ebene die Koordinierung durch ethisch fundierte Clearing-Stellen nach dem Muster der EU zu funktionieren. Die vertikale Verbindung zwischen den beiden Ebenen hätten wiederum die quasi-holistisch operierenden NGOs sowie in ihren Kompetenzen stark abgespeckte Nationalstaaten zu übernehmen.

III.1 Wie sind Kohrs Thesen im Umfeld der Gegenwart zu sehen?

  1. a) Der politische Spielraum für die  Realisierung der Thesen Kohrs ist  erst in jüngerer Zeit gewachsen, da die radikale Polarisierung des Kalten Krieges dies bis in die letzten Tage Kohrs hinein verhindert hat (Selbst Kohrs Eintreten für die Souveränität der winzigen Insel Anguilla wurde von GB letztlich aus diesem Grund bekämpft). Dies mag erklären, warum Kohr bis in die jüngste Zeit hinein kaum mehr als akademischem Interesse begegnet ist.
  2. b) Faktischer Gleichklang mit dem Konzept der Glokalisierung, wie von F Straubhaar entwickelt.
  3. c) In philosophischer Hinsicht: Kohrs Betonung der Offenheit der Menschennatur ist Grundlage seiner Ablehnung aller Ideologien („Frei von Ideologien! Das ist Anarchismus! Es ist die edelste der Philosophien“). Dies eröffnet Berührungspunkte, ja Parallelen mit gewissen Ideen der Postmodern; so insbesondere mit dem postmodernen Konstruktivismus, wie er heute von einigen Anhängern der Prozess-Philosophie vertreten wird. Eine ihrer Grundthesen, denen Kohr gewiss zugestimmt hätte, ist  die Forderung, neben der Wissenschaft auch Aussagen andere Erkenntnisquellen anzuerkennen – wie etwa Religion, Tradition und Aesthetik –  soweit sie nicht vernunftwidrig sind.  Verschiedentlich wird dieser Ansatz als eine zweite Phase der Aufklärung beschrieben, die einige überzogene Projektionen der klassische Aufklärung evolutiv zu korrigieren bzw. zu ergänzen sucht.