Die Kinder von Moria und Verantwortungsethik 2.0

 

Die Kinder von Moria und Verantwortungsethik 2.0

Wenn Österreichs Hilfe in den Elendslagern vor Ort nicht ankommt, ist Verantwortungsethik gescheitert und wieder Gesinnungsethik am Zug.

Der vorweihnachtliche Streit um die Aufnahme von einigen Kindern aus griechischen Elendslagern hat den Konflikt zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik wieder zum Überkochen gebracht. Ja, es ist edle Gesinnung, auch nur wenige Menschen aus dem Elend zu holen. Und ja, es ist edles Verantwortungsgefühl, dabei auch zu bedenken, ob man mit solcher Hilfe nicht deutlich mehr Schaden anrichtet. Im konkreten Fall wäre das der viel diskutierte „Pull-Effekt“, der noch mehr Migranten und Flüchtlingen trügerische Hoffnungen auf eine Zukunft in Europa macht.

Wenn in einer immer komplexer werdenden Welt  der Verantwortungsethik Vorrang zukommen sollte, so behält die Gesinnungsethik doch ihre Funktion: Es ist ihre Aufgabe, den Verantwortung tragenden Menschen so viel Tritte in den Hintern zu geben, dass sie tatsächlich verantwortungsvoll handeln.

So gesehen hat Österreich im September richtig gehandelt, als es nach dem Niederbrennen des Moira-Lagers  anstelle der Aufnahme von einigen hundert Kindern mit Bereitstellung von wintersicheren Unterkünften für 2000 Personen und Lieferung von umfangreichen medizinischen Material Hilfe vor Ort geleistet hat. Seither haben jedoch die österreichischen Medien so gut wie nichts über die tatsächliche Verwendung dieser Hilfe oder ihr ungenutztes Herumstehen berichtet  (eine journalistisch Unterlassungssünde oder politische Absicht?). Und nicht genug damit, festigt sich der Eindruck, dass griechische Behörden den  weiteren Zustrom von Migranten und Flüchtlingen mit Horrorbildern aus Moria sehr bewusst unterbinden wollen.

Wenn also österreichische Hilfe vor Ort nicht bei den Bedürftigen ankommt, dann ist in diesem Fall Verantwortungsethik gescheitert und der Ball ist wieder bei der Gesinnungsethik. Es liegt nun an ihr, auf den über den Anlassfall weit hinausgehenden gesellschaftlichen Schaden aufmerksam zu machen, wenn  der zum europäischen Selbstverständnis gehörende Wert der Mitmenschlichkeit gerade gegenüber Kindern missachtet würde. Und es wäre wegen dieses größeren Schadens verantwortungslos unethisch,  nicht durch Aufnahme von einigen hundert Kindern den Weiterbestand europäischer Werte unter Beweis zu stellen.

Gesinnungs- und Verantwortungsethiker können sich aber auch auf einer neuen Ebene verbinden: Wenn wir auch nur wenige Menschen aus Moria herausholen, wird dieser Pull-Effekt mehr Flüchtlinge nach Lesbos locken, als durch elende Lagerbedingungen davon abgeschreckt werden können.  Umgekehrt: eine weiter bestehende Aussichtslosigkeit nach (Mittel-)Europa zu kommen wiegt deutlich schwerer als die Erwartung relativer Bequemlichkeit während eines endlos scheinenden Aufenthalts in einem sanierten Lager. Der Schlüssel liegt also darin, Druck auf Griechenland auszuüben, um – mit unserer bzw. Europas Hilfe – die Lager tatsächlich und rasch auf ein menschenwürdiges Niveau zu bringen. So lange die Sanierung auf sich warten lässt – und nur so lange! – kann und soll Österreich auch kleine Kontingente von Kindern mit ihren Familien aufnehmen.

 

Botschafter i.R. Michael Breisky (*1940) trat 1967 in den Dienst des Außenamtes ein. Dieser Tage erschien sein Buch „Mit ‚Austrian Mind‘ über den Tellerrand hinaus“ als Mutmacher zur Coronakrise.

(mehr …)

WeiterlesenDie Kinder von Moria und Verantwortungsethik 2.0

Kommt der europäische Einheitsgatsch?

„Die Presse“ brachte in ihrer Leserpost vom 20.5.2020 die stark gekürzte Stellungnahme Michael Breiskys zu dem am 9.5. erschienenen Gastkommentar von Stefan und Andreas Broca „Eine zentrale Rolle in dieser Krise wird die EZB spielen“. Die ungekürzte Stellungnahme lautet:

Kommt der europäische Einheits-Gatsch?

 

Die Brüder Brocza meinen (Die Presse“ vom 9.5.2020), dass die EZB zum neuen Machtzentrum Europas wird, weil die „Sachlogik“ seit dem ersten kleinen Souveränitätsverzicht der Nationalstaaten auf diffusem Wege, aber unaufhaltsam zu einer „immer engeren Gemeinschaft“ führt, was wohl nur der europäische Einheitsstaat sein kann. Tatsächlich schrieb schon Jean Monnet am 30. April 1952 einem Freund zur Gründung der Montanunion: „Die Nationen Europas sollen zum Superstaat geführt werden, ohne dass seine Menschen das verstehen. Das kann schrittweise geschehen, wobei jeder einzelne Schritt hinter einem wirtschaftlichen Ziel versteckt wird – was schließlich unausweichlich zur Vereinigung (federation) führen wird.“

Wenn Monnet schon damals so etwas wie eine europäische Kopie der USA im Sinn hatte, so war das zwar kühn, aber nicht abwegig; denn mit der Ausnahme des südlichen Drittels Italiens waren die Gründerstaaten ein wirtschaftlich und kulturell homogenes Gebiet. Heute stimmt das leider nicht mehr – wir brauchen zwar Europa mehr den je, aber unaufhaltsame Einheitlichkeit wird als ernste Bedrohung verstanden.

(mehr …)

WeiterlesenKommt der europäische Einheitsgatsch?

2018: Pflegedienst in Utopia

2018: Pflegedienst in Utopia

Artikel im Magazin für Politik, Wirtschaft und Lebensstil FRANK & Frei, Wien, Nr. 08/18, Dezember 2018

Wie die Neuordnung von Pflegediensten aussehen könnte

Die Pflege ist eines der großen gesellschaftlichen Zukunftsthemen. Steigende

Lebenserwartung und niedrige Geburtenrate stellen Staat und Gesellschaft vor enorme

finanzielle und soziale Herausforderungen. Experten warnen sogar vor einem Systemkollaps.

Michael Breisky mit einem neuen, unkonventionellen Lösungsvorschlag.

Neulich habe ich von Utopia geträumt. Eigentlich sah es dort genau so aus wie bei uns, nur

wirkten die Utopianer etwas wifer und optimistischer als unsere Landsleute.

So waren auch die Utopianer von einer bösen Scherenentwicklung betroffen: durch

die demographische Entwicklung stieg einerseits und unaufhaltsam der Pflegebedarf;

andererseits war die Staatskassa leer und bei einer Sozialquote um die 50 % war auch

eine weitere Erhöhung der Steuerbelastung politisch nicht machbar. Da machten nun

die Steuereintreiber Utopias eine erstaunliche Entdeckung: (mehr …)

Weiterlesen2018: Pflegedienst in Utopia

2018: Populismus und Eliten-Arroganz

Artikel von Michael Breisky im Magazin für Politik, Wirtschaft und Lebensstil FRANK & FREI, Wien, Nr. 06/18, September 2018

Populismus und Eliten-Arroganz

Die alten Volksparteien stecken in der Krise. Zulange haben sie die Interessen vieler Bürger ignoriert und damit ihre Glaubwürdigkeit verspielt. Davon profitieren populistische Bewegungen, wie zuletzt etwa in Italien. Eine Analyse dieses politischen Umbruchs.

Klagen über eine Bedrohung der Demokratie durch zunehmenden Populismus sind gefährliche Risse im Politik-Verständnis. Denn was von den Eliten in Politik und Medien als eine „vernünftige“ Weltsicht dargestellt wird – aufgebaut auf den unantastbaren (weil unfehlbaren?) Werten der Demokratie, der Marktwirtschaft, der Toleranz und Solidarität – das kann von immer weniger Menschen nachvollzogen werden, Solidarität und Demokratie bleiben dabei als Erste auf der Strecke. Die heute unüberschaubar gewordene Komplexität rächt sich nun: Angesichts galoppierender Ungleichheiten begann das mit Zweifeln am Sinn der Globalisierung, setzte sich fort bei Aufarbeitung der Finanzkrise von 2008 – warum ist Geld zur Rettung von Banken da, nicht aber für Arbeitsplätze? – und gipfelte 2015 in staatlicher Ratlosigkeit gegenüber Massen-Migration und islamistischem Terror. Das Bild elitärer Vernunft-Exzesse wird abgerundet durch Resignation gegenüber der globalen Krise der Ökologie, während immer mehr über Orchideen-Themen der political correctness debattiert wird. (mehr …)

Weiterlesen2018: Populismus und Eliten-Arroganz

2017: Wie Regionen sich mehr Gehör verschaffen könnten

Es ist höchste Zeit, dass den Regionen in Europa mehr Selbstbestimmung eingeräumt wird – zum Wohle der Bürger!

Wenn das Beispiel Katalonien Schule macht, werden andere folgen – und die EU in eine tiefe, tatsächlich existenzbedrohende Krise stürzen, meint Joschka Fischer in einem europaweit syndizierten Kommentar „Europa versus Regionalismus“ (u.a. auch im „Standard“ vom 4. 11.). Formal gesehen hat Fischer völlig recht: Die für operative Entscheidungen maßgeblichen Ratsformationen sind heute mit 28 Mitgliedern schon am Rande der Funktionsfähigkeit. Ein paar Mitgliedstaaten mehr – und der Kollaps ist da.

Anders jedoch, wenn man inhaltlich fragt: Wie können sich Regionen auf EU-Ebene mehr Gehör verschaffen? Akzeptiert man das Unumstößliche, dass Ratsformationen nur die Vertreter von Zentralregierungen zulassen, dann geht das auch nur über die Vertretung der Zentralregierungen; das wird im Idealfall die eigene sein. Es ist aber auch denkbar, dass sich Regionen von der Vertretung eines anderen Mitgliedstaats vertreten lassen.

So zum Beispiel, wenn größere EU-Mitgliedstaaten starke topografische und klimatische Unterschiede aufweisen, wie das bei Frankreich und Italien der Fall ist: Ihre hochalpinen Regionen haben ganz besondere Eigenheiten und Bedürfnisse, die oft im natürlichen Gegensatz zu den Interessen der Mehrheit im gesamten Staatsgebiet stehen. Ähnlich die Interessen von Inseln wie den Balearen, die von Malta wohl besser vertreten würden als von ihrer Festlandregierung.

Was die EU-Verträge besagen

EU-Regionen sollten daher wählen können, in welchem Ministerrat sie sich von welchem Mitgliedstaat vertreten lassen. Während eine solche Vertretung informeller Art unproblematisch sein sollte – immer das Einverständnis der jeweils involvierten Mitgliedstaaten vorausgesetzt – wird es schwierig, wo es um formelle Beschlussfassungen und die Gewichtung der Stimmrechte geht. Auf den ersten Blick erlauben die Europäischen Verträge hier keinen Spielraum, denn sie sprechen nur von der Möglichkeit, dass sich in den Ratsformationen Mitgliedstaaten durch andere Mitgliedstaaten vertreten lassen. So besagt Artikel 239 der Europäischen Verträge: „Jedes Mitglied kann sich das Stimmrecht höchstens eines anderen Mitglieds übertragen lassen.“

Kreative Interpretationen

Demokratie, Subsidiarität und Staatssouveränität als Grundprinzipien der EU sollten hier jedoch eine kreative Interpretation zulassen: Der Zweck dieser Vertragsbestimmung ist ganz offenkundig die Verhinderung eines exzessiven Hortens von Stimmrechten, wobei offenbleibt, ob es sich da um einen Mitgliedstaat mit gleichen, weniger oder mehr Stimmrechten handelt. Das kleinste EU-Mitglied kann also durchaus auch ein Mitglied mit den höchsten Stimmrechten vertreten.

Interessant ist das Wort höchstens in diesem Artikel: Es impliziert die Möglichkeit, weniger als ein ganzes Stimmrecht zu übertragen – und kann sinnvollerweise nur für Teile eines anderen Mitglieds gelten, wie es eben seine Regionen sind.

Also sollte man schon mit der aktuellen Rechtslage auf Regionen bezogene Teile des Stimmrechts eines Mitglieds einem anderen Mitglied übertragen können – bis hin zu einer Gesamtsumme übertragener Stimmrechte, wie sie die größten Mitglieder haben! Was die Gewichtung dieser regionalen Stimmrechte anbelangt, sagen die EU-Verträge dazu zwar auch nichts aus. Doch sollte dies gegebenenfalls analog zur Stimmrechtsverteilung unter den Mitgliedstaaten erfolgen, also im Verhältnis der Bevölkerung einer Region zur Bevölkerung ihres Gesamtstaates.

Mit dieser Ausgestaltung des Regionalismus auf EU-Ebene würden die Mitgliedstaaten schon im Vorfeld der Fachministerräte als Clearing-Stelle für regionale Interessen auftreten. Das ist sicherlich eine zusätzliche Aufgabe. Die Schwierigkeiten einer solchen Regelung sollten im Übrigen weniger auf technischer, sondern mehr auf politisch-psychologischer Ebene liegen.

Sie hätte das Potenzial, auf sanftem Wege einerseits den Regionen mehr gesamteuropäische Denkungsart und Verantwortung näherzubringen, andererseits bei den nationalen Vertretungen der Mitgliedstaaten in den EU-Gremien Gewichtsverschiebungen einzuleiten.

Europaweite Broker

Während die Beschlussfassung im Europäischen Rat ungeteilt bei den Zentralregierungen läge und auch bei den Ministerräten in außenpolitisch definierten Interessen – wie der Sicherheitspolitik, dem Schutz der Außengrenzen sowie den staatlichen „Nachtwächterfunktionen“ –, könnte in den Bereichen Kultur, Soziales, Verkehr und auch Binnenmarkt eine (gemäß Artikel 239 maßvolle) Wettbewerbssituation der Zentralregierungen in den Vordergrund rücken, wo sie um regionale Stimmrechte werben. Zentralregierungen würden damit außenpolitisch zu europaweiten Brokern regionaler Interessen werden. Innenpolitisch würden sie den nationalen Gemeinsinn neu hinterfragen und nach Kräften zu fördern haben. Denn der Sinn der Gewährung von mehr regionaler Selbstbestimmung ist heute die Garantie dafür, dass die zentrale Macht mit der regionalen Macht auf Augenhöhe verkehrt – zum Wohle der Bürger! Neues Motto also: Si vis pacem, para regionem.

DER AUTOR

Botschafter i. R. Michael Breisky (geboren 1940) studierte Rechtswissenschaften. 1967 trat er in den Dienst des Außenamtes ein und leitete eine Zeit lang die Südtirol-Abteilung und die Amerika-Abteilung. Er ist Verfasser mehrerer Bücher und Artikel zu Fragen des Regionalismus, des Minderheitenschutzes und der Globalisierung.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 16.11.2017)

Ergänzende Bemerkungen des Autors: Die Möglichkeit der Übertragung von Stimmrechten auf regionaler Basis hätte Auswirkungen, die über die Beruhigung von Problemen wie der Katalonie-Krise weit hinausgehen. Ja, die Souveränität der EU-Mitgliedsstaaten bliebe unangetastet, und ohne Zustimmung ihrer Zentralregierung könnten Regionen nicht andere Mitgliedsstaaten um Vertretung ersuchen. Aber Zentralregierungen müssten nun ständig auf die besonderen Interessen ihrer Regionen Rücksicht nehmen; tun sie das nicht oder verweigern sie grundlos die Übertragung von Stimmrechten, würden sie sowohl im eigenen Land wie auch im Ausland den Eindruck der Demokratie-Verweigerung erwecken, mit allen negativen Folgen für ihr politisches Ansehen in Europa – und die eigene Wirtschaft. Es wäre daher sehr schwierig einer Region zu verbieten, jenseits der Staatsgrenzen Vertretungs-Hilfe zu suchen. Umgekehrt werden auch Mitgliedsstaaten wenig Lust haben, durch Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines anderen Mitglieds ihre guten Beziehungen zu diesem zu gefährden. Wenn es daher auch nur wenige Fälle tatsächlicher Stimmrechts-Übertragungen geben mag, ihre Auswirkungen auf die gesamte EU können kaum überschätzt werden: Abgesehen von der Förderung von Subsidiarität innerhalb der Mitgliedsstaaten wäre es für Mitgliedsstaaten nun schwieriger, ohne Rücksicht auf die Interessen aller ihrer Regionen traditionelles Power-play zu betreiben; die sachliche Grundlage für Entscheidungen der Ministerräte würde in dem Maße breiter werden, als Regionen sich durch ihre Zentralregierungen – und in der Folge durch die gesamte EU – weniger an den Rand gespielt sehen. Insgesamt bliebe zwar die überragende Stellung der Räte unter den EU-Institutionen unangefochten, gleichzeitig würde aber eine neue Aussicht auf Subsidiarität zum Abbau des so oft behaupteten demokratischen Defizits der EU beitragen. All das würde ohne einer – kaum erreichbaren – Änderung der EU-Verträge durch einen Prozess ausgelöst werden, den schon zwei Mitgliedstaaten in Gang setzen können.

Weiterlesen2017: Wie Regionen sich mehr Gehör verschaffen könnten