2019: Europas Diskutierfähigkeit

Artikel im Magazin für Politik, Wirtschaft und Lebensstil Frank & Frei Nr. 09, Wien

Überschaubarkeit sol Europas Diskutierfähigkeit retten

von Michael Breisky

 

Auf die Krise der EU mit mehr EU und mehr Zentralismus zu reagieren, ist der falsche Weg.

Was notwendig wäre, ist eine radikale Durchsetzung des Subsidiaritätsprinzip

 

Wetten, dass in den nächsten fünf Jahren kein Stein in Europa auf dem anderen bleibt? Die Kandidaten für die Europawahlen am 26. Mai 2019 stehen ja vor wahren Herkules-Aufgaben: Nicht genug mit globalen Krisen wie Klima und Kriegsgefahr, Globalisierungs-Exzesse bei Migration, Finanzen und den Daten-Kraken im Silicon-Valley; stehen wir auch vor gewaltigen Europa-Problemen: Während vom Äußeren her Trump, Putin und Erdogan auf eine Schwächung, wenn nicht  gar Zerschlagung der EU zielen; wollen im Inneren die tiefen Wunden  des Brexit nicht verheilen – schon weil das Vertrauen in die Lösungskompetenz der repräsentativen Demokratie  dabei ist sich aufzulösen. Wer sich heute um einen Sitz im Europäischen Parlament oder der Europäischen Kommission bemüht, ist daher entweder unglaublich mutig oder lebt in einer andren Welt.

Die Wucht dieser Krisen ist eigentlich recht erstaunlich, denn in der langfristigen Perspektive einer sich rasch ändernden Welt sollte Europa die besten Karten haben, um als Leuchtturm für weltweiten Frieden und ganzheitliche Nachhaltigkeit zu wirken: Nimmt man Ethik, geistige Flexibilität und Pragmatismus zum Maßstab der Zukunftsfähigkeit, so gibt es keine andere Weltgegend, die mit einer derart dichten kulturellen Vielfalt auf engstem Raum den idealen Rahmen für diese Eigenschaften besitzt.  Dem entspricht ja auch die europäische Integration als erstes, tatsächlich umgesetztes und erfolgreichstes Friedensprojekt der Weltgeschichte.

 

Wenn in Europa trotzdem so viel schief läuft, dann muss es tiefere Gründe geben.  Ist es nicht der für die demokratische Entwicklung  unverzichtbare rationale Diskurs, der in einer immer größer und komplexer werdenden EU das Streben nach Überschaubarkeit verletzt hat? Dieses Streben ist in der Menschennatur verankert und daher nicht verhandelbar; und so ist  vielfacher emotionaler Rückstau entstanden, der nun diesen rationalen Diskurs blockiert. Noch kürzer: viele gute Ideen wurden „ganz rational“, aber gegen jedes Menschliche Maß  in den Exzess getrieben.

Die Diskursfähigkeit begann in den 1990er Jahren zu leiden, als im Zuge der Automatisierung „ungelernte“ Arbeiter „freigesetzt“ wurden, ohne dass das Gewerkschaften und Arbeiterparteien sonderlich bekümmert hätte. In diese Lücke stieß ein Jörg Haider mit einer Strategie, die mir ein prominenter Burschenschafter bestätigt hat: Kurz vor wichtigen Wahlen eine grenzwertige Aussage in Richtung Nazismus tätigen, den dann laut  einsetzenden Pawlow-Reflex vorwiegend linker Antifaschisten abwarten – und dann über Stammtische die Losung verbreiten: „über den alten Scheiß von vorgestern regen sich die da obenauf – aber für die großen Sorgen, die Ihr heute habt, haben sie nichts übrig – nur wir kümmern uns um Euch!“

Zu den Globalisierungsverlierern gehören dank Künstlicher Intelligenz auch Mittelständler mit einer bis vor kurzem noch als bombensicher geltenden Ausbildung und Erfahrung. Und Haiders FPÖ hat nun auch in anderen Ländern Europas Gesinnungsgenossen gefunden, die die Existenzängste  in Wählerstimmen umzusetzen wissen. Die Masche dieser Populisten ist stets die gleiche:  Angstbeladene Tabuthemen, die vom Medien-Mainstream nicht angerührt werden, derart verkürzt aufgreifen, dass diese  Themen hoch emotionalisiert werden und sich so einem rationalem Diskurs entziehen.

Statt etwa zu fragen: warum „Ausländer raus“? Wie soll das funktionieren? Was sind die Folgen? – Also auf diesem Diskurs zu bestehen und damit populistische Forderungen zum Wohle aller Punkt für Punkt konstruktiv aufzulösen; geben heuteNeo-liberale und Links-Parteien als Folge des Brexit-Referendums  im Kleingedruckten die langjährige Missachtung dieser Ängste zwar zu – lautstark reagieren sie aber im Ton moralischer Überheblichkeit mit weiter polarisierenden Faschismus-Vorwürfen und Nazi-Keulen.  Sie tun das in der Hoffnung, die wacklig werdenden eigenen Anhänger mit der Emotionalisierung aller “Gutmenschen“[1]bei der Stange halten zu können; ist Populismus doch ein Thema, das mehr interessiert als Nachhutgefechte zu einer weitgehend erledigten Agenda des demokratischen Sozialismus. Die Folge ist eine an die 1930-er Jahre erinnernde Gesprächs-Verweigerung.

 

Die Diskursfähigkeit in Europa kommt freilich auch aus anderen Gründen unter die Räder. Gari Kasparow, Exil-Russe und ehemaliger  Schachweltmeister, sieht in den meisten der heute so gefürchteten Hackerganz eindeutig professionelle Cyber-Angreifer in Putins Sold. Sie folgen einer langfristigen Strategie der Verunsicherung, wenn sie – zusammen mit Fake News  – einen dichten Nebel generellen Misstrauens verströmen. Laut Kasparow will diese Propaganda auch nicht mehr von einer bestimmten Sichtweise überzeugen. Es genügt zu destabilisieren, indem die Fähigkeit der Bürger zum kritischen Denken erschöpft wird – Putin mit seinen russischen Trollfabriken tue das wirklich meisterhaft. In den alten Tagen des Kommunismus war Propaganda noch ein Schwarz-Weiß-Denken; was nicht passte, wurde verschwiegen. Heute würde Propaganda jede Kritik überschwemmen: „Ihr sagt, wir sind nicht die Guten? Hey, niemand gehört zu den Guten! Alle haben Dreck am Stecken. Alle lügen.“ So werden Gerüchte gestreut und Verunsicherung erreicht.

Kasparow sieht beiPutinkeine ideologischen Schranken, jede Gruppe, die Europa destabilisiert, sei gut für ihn. Ähnlich agieren diverse Dienste der US-Administration – Präsident Trump hat die EU ausdrücklich als Feind bezeichnet – und China ist auf dieser Ebene sicher kein Asket. Selbst Staaten aus der zweiten Reihe sind heute willens und fähig, sich dieser Verunsicherungs-Technik zu bedienen – ganz zu schweigen von transnationalen Großkonzernen und Daten-Kraken mit ihren EU-widrigen steuer- und kartellrechtlichen Interessen.

 

Also wird heute in der EU ein rationales Ausdiskutieren offener Fragen von innen und von außen empfindlich gestört, wenn nicht gar verhindert. Darunter leidet nicht nur die politische Agenda, sondern auch die Einschätzung der gesamten Lösungskompetenz  – die Folge ist ein resignatives Selbstverständnis der EU. Außer der Wohlstandserhaltung scheint sie keine Ziele mehr zu haben, ihre Wortspenden zu europäischen Werten klingen hohl. Das nimmt Europa die Zukunfts-Zuversicht und spielt seinen Feinden in die Hände.

Heute ist die EU somit an ihrer demokratischen und geistigen Basis gefordert; muss sie doch unter allen Umständen die Fähigkeit zum Ausdiskutieren offener Fragen wiederherstellen. Und das kann wohl nur gelingen, indem man zum einen unter den Diskutanten für ein Mindestmaß an persönlichem Vertrauen sorgt, ihnen also weder Unvernunft noch Unmoral unterstellt; und zum anderen möglichst konkret zu konkreten Problemen spricht, weil Abstraktionen heute mehr Emotionen als Lösungen produzieren. Das ist durchaus möglich, und zwar dort, wo die jeweiligen Interessen soweit bekannt sind, dass an der Aufrichtigkeit der Aussagen nicht gezweifelt wird – und all das ist nur in einem einigermaßen überschaubaren Umfeld möglich. So meinte schon Leopold Kohr, in einem Kleinstaat würden Möchte-gern-Diktatoren schon an der Lächerlichkeit ihres ersten öffentlichen Auftritts scheitern. Mit anderen Worten, ganz im Einklang mit dem Subsidiaritätsprinzip sollten möglichst viele Fragen in einem Umfeld diskutiert und entschieden werden, von dem alle Diskutanten (bzw. Wähler!) ein wenn auch grobes, aber jedenfalls umfassendes Verständnis haben. Im EU-Kontext sind das heute weder Brüssel noch die Nationalstaaten, sondern am ehesten die im Rat der Regionen vertretenen Gebietskörperschaften.

 

Für die radikale Durchsetzung des Subsidiaritätsprinzips sprechen noch viele Gründe, hier sei noch die Ethik angesprochen, kann die erwähnte Leuchtturm-Funktion Europas doch nicht nur im Materiellen liegen. Wiederum liegt das Problem in fehlender Überschaubarkeit: Offenbar ist es Teil der Menschennatur, dass ethische Standards Nähe brauchen, um voll umgesetzt zu werden.  Also mehr Nächsten- statt Fernstenliebe.

Nassim Nicholas Taleb, der seit seinem Klassiker „Der schwarze Schwan“  als führender Risiko-Theoretiker gilt, meint: Theoretisch ist es möglich, sowohl moralisch als auch universalistisch zu handeln – in der Praxis jedoch leider nicht; „denn jedes Mal, wenn das „Wir“ ein zu großer Club wird, sinkt das allgemeine Niveau, und jeder fängt an, nur für seine eigenen Interessen zu kämpfen. Das Abstrakte ist für uns viel zu abstrakt.“Daher  müsse man  in harmonisch gestalteten Beziehungen zwischen ähnlichen, aber eben doch verschiedenen Stämmen agieren und nicht sämtliche Stämme zu einer Riesensuppe zusammenrühren. So warnt Taleb vor „zügelloser Globalisierung und großen, zentralisierten, multiethnischen Staaten“. Ähnliches dazu in Kurform:Groß ist ungeschickt(J.N.Nestroy); small is beautiful(E.F. Schumacher) und Einheitlichkeit ist Opium für Einfältige(K.Marx/M.Breisky).

 

Während die EU nach außen einheitlich und stark auftreten soll, braucht sie also im Inneren ein Maximum an Überschaubarkeit. Das erfordert tiefgreifende Kompetenzverlagerungen zugunsten kleiner Einheiten – mehr noch bei Nationalstaaten als bei EU-Institutionen. Von heute auf morgen wird das nicht gehen, doch liegt es an den am 26. Mai 2019 gewählten Abgeordneten zum Europäischen Parlament, zumindest den Prozess in diese Richtung in Gang zu bringen.

Konkret soll der derzeit eher dahindämmernden Europäische Ausschuss der Regionen die Mittel erhalten, um Plattform undThink-tank  für alle der Subsidiarität dienenden Initiativen zu werden.

Weiters sollte das EP die Regionen ermutigen, bei Tagungen der Europäischen Räte – wo ja die wichtigsten Entscheidungen fallen – ihre Interessen in bestimmten Materien nicht von ihren jeweiligen Zentralregierungen vertreten zu lassen sondern von einer anderen Zentralregierung ihrer Wahl – selbstverständlich in Verbindung mit einer entsprechenden ad-hoc Adjustierung der Stimmgewichte. Wie in meinem Buch „Menschliches Maß gegen Gier und Hass“ dargestellt, ist das mit geltendem EU-Recht durchaus vereinbar.

So könnten sich etwa im Rat der Landwirtschaftsminister hochalpine Regionen mit starker Viehwirtschaft von fremden Zentralregierungen mit ähnlichen Interessen vertreten lassen, wenn die eigene  Zentralregierung mehr dem Ackerbau huldigt. Oder könnte sich Katalonien gelegentlich lieber von Lissabon als Madrd vertreten lassen, Südtirol zwischen Rom, Wien und Berlin wählen, Malta könnte sich Bayern andienen… So könnte den Regionen mehr gesamteuropäische Denkungsart und Verantwortung näher gebracht werden.

Das sollte dann vor allem in den EU-Räten zu längst fälligen Gewichtsverschiebungen führen: Während die außenpolitischen Interessen, die Sicherheitspolitik, der Schutz der Außengrenzen und wohl auch die anderen „Nachtwächter-Funktionen“ weiterhin ungeteilt bei den Zentralregierungen liegen würden; könnte bei Kultur, Sozialem, Verkehr und wohl auch dem Binnenmarkte eine Wettbewerbs-Situation der Zentralregierungen in den Vordergrund rücken, wo sie um regionale Stimmrechte werben. Zentralregierungen würden damit zu europaweiten Brokernregionaler Interessen werden – die den Bürgern ohnehin am nächsten sind.

In diesem Sinne viel Mut und Erfolg bei den Europa-Wahlen, liebe Kandidaten!

[1]  „Gutmenschen“ folgen einer Gesinnungsethik, und steht diese im Gegensatz zur Verantwortungsethik. Gesinnungsethik sollte nur die Appetit anregende Würze in der sonst recht faden Kraft-Suppe der Verantwortungsethik sein – nicht aber umgekehrt.