1999 Gastkommentar: Die EU auf dem Weg zu „analoger“ Politik

Der Autor ist Österreichs Botschafter in Irland. Ein von Österreich veranstaltetes EU-Seminar in Dublin zeigt, daß der Eindruck zunehmender Schwerfälligkeit und „Kompliziertheit“ der Europäischen Union nur die formale Kehrseite einer sehr positiven Entwicklung inhaltlicher Art ist. Tatsächlich kann man in der Europäischen Integration etwas völlig Neues beobachten, den Übergang von klassischer, „digitaler“ (Schritt-für-Schritt)- Politik zu einer „analogen“ Politik zahlloser parallel und kontinuierlich ablaufender Entscheidungsprozesse. Drei Elemente sind dabei wesentlich: Die nicht mehr zu überblickende Zahl aktiver „Mitspieler“. Auch die weit über tausend in Brüssel präsenten Lobbies wirtschaftlicher, sozialer, regionaler, ja auch religiöser Interessensvertretungen wirken nämlich – vor allen über den „anonymen“ Apparat der Kommission – gezielt in die institutionellen Prozeduren hinein.

Die „Kultur des Konsenses“. Sie erfordert freilich auch die Bereitschaft zu vielen – zu- gegeben ermaßen unübersichtlichen – Ausnahmen und Übergangsfristen.

Der geringe Termindruck in den Entscheidungsprozessen. Wenn als Folge der sich überschneidenden Wahlperioden in den Mitgliedsstaaten „irgendwo immer gewählt“ wird und auch das Europäische Parlament zahnlos bleibt, dann kann die Union als Ganzes von keiner einzelnen Wahl unter Druck gesetzt werden. Vor allem mit den zwei letztgenannten Phänomenen beschreitet die EU politisches Neuland (Unterschied zu den USA!). Im Gegensatz zur „digitalen“ Politik, die nach Art eines Schachspiels wesentlich von der richtigen Berechnung des nächsten „Zuges“ der Spielpartner abhängt, sind in der „analogen“ Politik die nächsten Spielzüge der einzelnen Partner kaum mehr zu berechnen; ja wichtiger noch, ihre Berechnung verliert stark an Bedeutung, weil in diesem „offenen Prozeß“ auch die Wirkung der nächsten und übernächsten Züge auf das Ganz zu relativieren ist. Daher muß nun kurzfristige, taktisch orientierte „Politik der Spekulation“ – eigentlich eine auf der Instrumentalisierung des Umfelds aufgebaute „Politik des Seins“ zurückstehen. Interessenspolitik findet zwar damit kein Ende, ihr Erfolg liegt aber nun primär in der Stichhaltigkeit ihres Vorbringens (erst in der allerletzten Phase des Verfahrens im Rat wird für die Kompromißfindung wieder „digitales Geschick“ gefordert). Konsequenz des analogen Charakters der EU-Politik ist u. a.:

Sie ist notwendigerweise eine ethische Politik, denn Egoismen finden keinen Konsens und Unaufrichtigkeiten werden von den Lobbies und Medien bald entdeckt.

Wenn die Kraft des Argumentes wichtiger wird als die – immer nur höchst relative – Macht des einzelnen Spielers, dann verlieren „Größe“ der Mitgliedsstaaten und die Zahl ihrer Stimmrechte an Bedeutung. Analoge Politik kann also weitgehend die Schwäche des Kleinen auslösen. Bezeichnen- der weise werden kleine Mitgliedsstaaten nur sehr selten überstimmt. Häufiger bleiben „Große“ allein. Auch Sorgen über Effizienzverluste durch Erweiterung und Aufwertung der Regionen verlieren an Gewicht. Weil sich analoge Politik auf netzartige Informationsprozesse stützt, und diese Prozesse auch unter stärkstem Druck kaum abgekürzt werden können, liegen die Grenzen der analogen Politik in ihrer längeren Reaktionszeit. Wo rasch reagiert werden muß, wie in der Außen- und Sicherheitspolitik, muß daher weiterhin „digital“ gehandelt werden – allerdings kann auch hier das Umfeld der Akteure „analog“ gestaltet werden, etwa bei ihrer Bestellung.