1996 Essay: Zur Psychologie der Minderheitenpolitik

Zur Psychologie der Minderheitenpolitik

Das Tabu des Subjektiven und derfehlende »contrat national«

von Michael Breisky
aus EUROPÄISCHE RUNDSCHAU,
Vierteljahreszeitschrift für Politik, Wirtschaft und Zeitgeschichte, Wien

24.Jahrgang, No.4/1996
5. Februar 2009

In Staatskanzleien und Seminarzimmern setzt man sich seit der Wende von 1989 wieder mehr mit Minderheitenpolitik auseinander und läßt dabei die verschiedensten Disziplinen zum Zuge kommen: Geschichte und Ethnographie, Kultur- und Sicherheitspolitik, und vor allem die Rechtswissenschaft. Man möchte gerne glauben. daß es nur des richtigen »Mix« dieser Wissenschaften bedarf, um das Idealmodell für dieBehandlung offener und latenter Minderheitenkonflikte zu finden – und wundert sich doch, daß die optimale Rezeptur noch nicht gefunden worden ist.

Es fällt auf, daß die genannten Disziplinen die Probleme von Minderheiten von ihren objektiven Erscheinungsformen her zu behandeln suchen. Die subjektive Seite hingegen, also die Frage der inneren Beweggründe für die Einnahme konkreter Positionen, scheint demgegenüber vernachlässigt worden zu sein; ja man gewinnt sogar denEindruck, daß die mit Minderheitenpolitik befaßten Personen auch heute noch um Sigmund Freud als einem der Säulenheiligen des 20. Jahrhunderts und derPsychologie ziemlich bewußt einen großen Bogen machen, hier also ein Tabu vorliegt.

Tatsächlich können ja für die Respektierung eines solchen Tabus auch triftige Argumente herangezogen werden: Wenn man beginnt, sich um die Befindlichkeit von Minderheiten zu kümmern und Gründe für ihre Ängste und sonstigen Emotionen zu identifizieren., dann liegt auch die Frage nahe, was sich die Minderheiten denn wirklich wünschen – und man wäre schon mitten in einer Selbstbestimmungs-Diskussion. Selbstbestimmung ist aber für Staatskanzleien nicht erst seit dem blutigenZerfall Jugoslawiens ein grauslich gefährliches Wort. Eben diese Gewalt am Balkan zeigt aber auch, daß es die lange Verdrängung subjektiver Befindlichkeiten und Wünsche ist, die das nun explodierte Konfliktpotential geschaffen hat.

Die hier zu untersuchende Frage lautet daher: Ist es sinnvoll und möglich, im Rahmen der Minderheitenpolitik typische und konfliktträchtige Emotionen in Frieden stiftender Weise zu behandeln und dabei so vorzugehen, daß eine Selbstbestimmungsdiskussion mit unkontrollierbaren Kettenreaktionen vermieden werden kann?Ich glaube dies mit einem Ja beantworten zu können und hoffe, zu diesem Ergebnis in schlüssiger Weise nach Untersuchung folgender Fragen zu gelangen:

-Welche Aspekte subjektiver bzw. psychologischer Natur müssen in der Minderheitenproblematik besonders berücksichtigt werden?

– Wie kann diesen Aspekten taktisch und strategisch in sinnvoller Weise Rechnung getragen werden?

Ethnische Identität und Stereotypen-Wandel

Die erste Frage stellt sich durch die Erfahrung, daß sowohl im Minderheits- als auch im Mehrheitsvolk Standpunkte und Entscheidungen letztlich unter dem Gesichtspunkt der eigenen Identität gesehen werden und daher in einem ganz besonderen Ausmaß von Emotionen geprägt sind. In diesem Zusammenhang seien nach-stehende Thesen erlaubt:

a) Die Erfahrung der eigenen Identität: Der im Angesicht einer Minderheitensituation aufwachsende Mensch »adoptiert« seine eigene ethnisch-kulturelle Identität schon sehr früh, meist in seiner prae-rationalen Phase. Unterschiede zwischen eigener und fremder Volksgruppe werden noch nicht objektiv erkannt und wertfrei verarbeitet, sondern pauschal mit den wertenden Kategorien »gut« und »böse« bedacht. Die eigene Gruppe wird dabei als gut und eindeutig »besser« als die andere Gruppe empfunden; in der Folge wird zur schein-rationalen Begründung dieser Wertung letztlich ein vage tradierter, aber deutlich überhöhter Ursprungsmythos herangezogen; unter Berufung auf – bitte jeweils ankreuzen – Gott, Vorsehung oder Macht der Geschichte glaubt man dabei, die eigene Überlegenheit im Sinne von Mut, Ausdauer.Klugheit, Schönheit, Kultur, Religion, Humor oder auch nur Leidensfähigkeit als gegeben annehmen zu dürfen.

Diese Art der Prägung von Stereotypen existiert naturgemäß auch außerhalb von Minderheitensituationen und wird dort mangels Herausforderung meist mit zunehmender Reife des Heranwachsenden sublimiert. Besteht jedoch eine solche Minderheitensituation, so sieht der Heranwachsende seinen eigenen Überlegenheitsanspruch tagtäglich geleugnet – seine eigene Identität bleibt daher ständig emotional gefordert und steht einem rationalen Approach im Wege.

Anzumerken wäre dazu, daß diese Problematik keineswegs auf Angehörige der Minderheit beschränkt ist, sie vielmehr – ja vielleicht noch mehr – auch im Mehrheitsvolk besteht; letzteres muß es ja als tiefe Kränkung empfinden, daß die Minder-heit das ihr angebotene Aufgehen im „ach so edlen“ Mehrheitsvolk ablehnt und dieihr »trotzdem und großzügig« angebotenen Schutzinstrumente konstant als unzureichend bezeichnet.

b) Phänomen der Hirnhälften-Blockierung: Wie in der Individualpsychologie kann wohl auch in Volksgruppenkonflikten davon ausgegangen werden, daß dieFähigkeit zu rationaler Argumentation blockiert ist, sobald eine Auseinandersetzung ein höheres Maß an Emotionalität erreicht (neuro-physiologisches Phänomen derBlockierung der rationalen Hirnhälfte bei erregter emotionaler Hirnhälfte).

Dieses Maß wird bei Fragen der Identität von Volksgruppen und ihrer Behauptung meist überschritten. Es ist daher einleuchtend, warum Fragen, die objektiv gesehen geringfügig sind, bei höchstem emotionalem Aufwand ungelöst bleiben; und daß in einer einmal ausgebrochenen Selbstbestimmungsdiskussion einerseits die Minderheit allen rationalen Gegenargumenten zum Trotz der Radikallösung bis hin zur Sezession zuneigt (übersehend, daß der Sezession als Höhepunkt emotionaler Politik – wie nach Höhepunkten in anderen Lebensbereichen – meist Traurigkeit folgt); während anderseits das Mehrheitsvolk mehr an seinen gekränkten Stolz als an materielle Erleichterungseffekte denkt.

c) Relativierbarkeit von Stereotypen: Mögen die obigen Thesen für eine konstruktive Politik entmutigend wirken, so sind aber auch positive Phänomene einer Volksgruppen-Psychologie zu registrieren. Die emotionale Bewertung von Stereotypen, wie die mehr oder weniger deutlichen Unterschiede zwischen Völkern oder wie die Bewertung der Gesamtsituation eines Volkes, ist keineswegs unabänderlich; Zeitablauf und Glück, aber auch bewußte Politik können sehr wohl den emotionalenBallast solcher Stereotypen relativieren, ja gelegentlich sogar umkehren.

Ein gutes Beispiel dazu liefert das österreichisch-italienische Verhältnis: Bezeichneten Österreicher ihre südlichen Nachbarn in den Zeiten von Krieg und akuterSüdtirol-Krise als feig und verräterisch und wurden sie selbst von diesen als stur undbrutal angesehen, so brachte die Beruhigung der Politik und der Aufschwung imFremdenverkehr spätestens seit den frühen achtziger Jahren auch für die breitenMassen eine Umkehrung dieser Qualifizierungen: den Italienern wurde nun wunderbar menschliche Aufgeschlossenheit attestiert, während bei den Österreichern mustergültige Ordnung und Verlässlichkeit gerühmt wurde. Man sieht daraus, wie einkleiner Kern objektiver Information – Italiener neigen im allgemeinen zu mehr Pragmatismus als Österreicher – je nach Grundstimmung sowohl negativ als auch positivaufgebauscht werden kann.

Die Frage, mit welcher Politik eine Relativierung emotionaler Barrieren erreicht werden kann, ist hier nicht erschöpfend zu beantworten. Sicher gibt es da keinen»quick fix«, muß hier vielmehr der Faktor Zeit in konstruktiver Weise eingebracht und in langfristigen Kategorien gedacht werden. Wichtigster Ansatzpunkt sollte aberder Versuch sein, die gefährlichen Emotionen zunächst zu isolieren und sodann auszuhungern. Dazu gehört insbesondere auch der Abbau von echten oder auch nur vermeintlichen Ängsten durch Eröffnung einer Perspektive, die der eigenen Gruppe -nach eigenem Dafürhalten! – eine gesicherte Existenz und Entwicklung ermöglicht.

Für die emotional bewegte Minderheit läuft dies auf die Eröffnung eines Weges hinaus, der zu einem wirklich optimalen Maß an Selbstbestimmung führt. Und imMehrheitsvolk sollte man zuerst bedenken, daß »Perspektive« bloß die Ausrichtung auf einen theoretischen Fluchtpunkt bedeutet; ob dies später einmal auch seine tatsächliche Erreichung bedeutet, kann man dann einem längeren Verhandlungsprozess der Überzeugungskraft der eigenen Sach-Argumente überlassen.

Kalmierung von Emotionen

Mit den Stichworten „Isolieren und Aushungern von Emotionen“ und „Eröffnen von Perspektiven“ befinden wir uns bereits bei der zweiten Gruppe der eingangs gestellten Fragen, also der „Therapie“ von im Subjektiven gelegenen Problemen. Wie schon die genannten Stichworte zeigen, läuft sie einerseits auf ein taktisches bzw. punktuelles Kalmieren von Emotionen und andererseits auf die Entwicklung einer Strategie des Rationalen hinaus. Im ersteren Sinne bietet sich an:

– Der psychoanalytische Ansatz: darunter wäre das Bestreben zu verstehen, schon in den Schulen auf die besonderen Mechanismen der Volksgruppen-Psychologie hinweisen: wobei etwa Hilfe bei der Selbsterkenntnis anzubieten wäre, wo die Grenze zwischen gerade noch zu tolerierenden (»normalen«) Wertigkeiten prae-rationalen Urprungs und deren unreflektierter, aber schädlichen Anwendung liegt;

– Der informationspolitische Ansatz: dazu gehört der Abbau von Informationsdefiziten über die jeweils andere Volksgruppe als Ursache eigener Fehlvorstellungen und Ängste. Ein wichtiges Instrument dieses Ansatzes wäre die Erarbeitung gemeinsamer Geschichtsbücher, wie dies schon in den siebziger Jahren für die Kalmierung der österreichisch-italienischen Beziehungen beabsichtigt war;

– Der Ansatz der Relativierung des Nationalstaates: Hier wäre die gesellschaftliche Evolution seit der Aufklärung kritisch zu durchleuchten und dabei darzustellen, dass das allgemein überhöhte Konzept des Nationalstaates – der in seiner reinen Form in Europa heute ohnehin mehr die Ausnahme als die Regel ist – nicht den logischenEndpunkt geschichtlicher Entwicklung darstellt, sondern nur eine Etappe, die für dieEntwicklung von Solidarität mit sozial schwachen Volksgenossen notwendig war. Pointiert lautet die an das Mehrheitsvolk gerichtete Botschaft dieses Ansatzes: Ein Festhalten am Primat einer nationalen Gruppe im Staat ist weder gut noch böse, sondern schlichtweg altmodisch. In diesem Sinne auch

– Der Ansatz der Selbstironie: Die Beobachtung, daß Volksgruppenpolitik der vermutlich humorloseste Bereich der Politik ist, sollte nicht einfach stehengelassen werden: Selbst-Ironie ist schließlich höchster Ausdruck eines rationalen „Über-den-Dingen-Stehens“. Wie wäre es etwa, wenn der Europarat oder das Europäische Parlament diejenige Schulklasse prämiert, die ein besonders groteskes Denkmal für die Überheblichkeit der eigenen Nationalität identifizieren kann?

– Parallel dazu wären auch die klassischen Instrumente des Minderheitenschutzes anzuwenden und zu pflegen, wozu neben der Verbreitung des Wissens um die einschlägige Rechtsentwicklung sicherlich auch die besondere wirtschaftliche Förderung on Gebieten gemischter Population gehört: Das Erfolgsmodell Südtirol gründet sich ja nicht zuletzt auch auf den in den siebziger Jahren gefestigten Wohlstand derSüdtiroler, der ihnen radikale politische Forderungen als zu riskant erscheinen ließ.

Wenden wir uns nun der Entwicklung rationaler Gesamtperspektiven zu. Hier ist zunächst festzustellen, daß in fast allen Staaten mit Minderheitensituationen schon in der Grundidee des Staates ein Manko besteht. Das Zusammenleben in einem Staat beruht ja gemäß der heute im wesentlichen unwidersprochenen Theorie J. J. Rousseaus auf der Fiktion eines Gesellschaftsvertrages ausdrücklicher oder (häufiger)auch nur hypothetischer Natur. Minderheitenvölker können sich nun durch einen„contrat social“ nur gebunden sehen, wenn dieser auch die Pluralität und Gleichwertigkeit der in seinem Verband lebenden Völker festschreibt, also daneben auch eingleichwertiger »contrat national« besteht. Andernfalls müßte die an einem Mehrheitsvolk ethnisch-kulturell orientierte Staatsidee, aber auch der bloße Vorrang des „demokratischen Wollens« im »contrat social« als Bedrohung des Minderheitenvolkes gesehen werden-, letzteres deshalb, weil sich die nicht abstimmungsfähige Andersartigkeit einer Minderheit dem demokratischen Mehrheitsprinzip entzieht und deshalb auch die zur Bewahrung dieser Andersartigkeit notwendigenInstrumente nicht diesem Prinzip unterworfen werden sollten. Auch der verfassungsmäßige Auftrag eines Staates zum Schutz seiner Minderheiten genügt hier nicht, da das Minderheitenvolk dabei nur fremdbestimmtes Objekt statt Subjekt wäre.

Ob ein solcher »contrat national« nun den Minderheiten bereits einklagbare kollektive Rechte einräumt, ist wohl primär eine Frage der Rechtskultur der jeweiligen Staaten – wesentlich erscheint mir hier seine politisch wirksame Existenz alsRahmen für die Perspektive, die das subjektive Element berücksichtigt. Und diesePerspektive muß, um ihre beruhigende Funktion ausüben zu können, sicherlich auch das Thema Selbstbestimmung umreißen. Letztere ist, wie schon eingangs erwähnt, inStaatskanzleien immer noch gefürchtet, die daher auch – wie überhaupt das Prinzip kollektiver Rechte – im fortschrittlichsten europäischen Vertrag zum Thema Minderheitenschutz, der im Februar 1995 zur Unterzeichnung aufgelegten Rahmenkonvention des Europarates, geflissentlich umgangen worden. Dieses Tabu sollte nach demGesagten entbehrlich sein.

In Stufen zur Selbstbestimmung

Neuerlich betonend, daß die Selbstbestimmung nur ein anzunehmender perspektivischer Fluchtpunkt, nicht aber ein notwendigerweise zu erreichendes strategischesZiel ist, soll im folgenden versucht werden, die Elemente aufzuzeigen, die ein»contrat national« im Idealfall enthalten sollte:

1) der Verzicht des Staates auf jede Ingerenz bei der Selbstkonstitution vonVölkern und Volksgruppen, die dies nachhaltig begehren,

2) die grundsätzliche Bereitschaft des Staates, solcherart konstituierten Völkern die diesen jeweils adäquat erscheinende Form interner, aber auch externer Selbstbestimmung zu ermöglichen;

3) seitens des Staates und des Minderheitenvolkes die Anerkennung des Prinzips des »jeweils gelindesten Mittels« bei der Ausübung einer oder mehrerer Formender Selbstbestimmung. Das bedeutet, daß in einer Stufenleiter möglicher Formen derSelbstbestimmung zunächst die Untauglichkeit der niedrigeren Form erlebt und erwiesen werden muß, bevor zur Realisierung der nächsthöheren geschritten werden kann.

Also wären zunächst die Formen interner Selbstbestimmung mit Kultur-Autonomie, dann Territorial-Autonomie (allenfalls auch mit Zwischenformen jeweils getrennter Personalstatute mit Legislativ- und Exekutivgewalt analog zum »Mährischen Ausgleich«) und weiter Bundesstaat zu durchlaufen, bevor die externe Selbstbestimmung im Sinne von Sezession und Grenzveränderung ausgeübt werden kann.Daß sich die Untauglichkeit einer Stufe nur nach mehreren Jahren erweisen kann,liegt wohl auf der Hand.

4) Für das Minderheitenvolk bedeutet dies schließlich die Verpflichtung zur Anwendung rechtsstaatlicher, jedenfalls ausschließlich friedlicher Mittel zur Erreichung seiner Ziele; dazu gehört auch die Pflicht zur Ausschöpfung aller innerstaatlichen Rechtsmittel, bevor völkerrechtlich legitimierte Scgutzmächte oder internationale Foren eingeschaltet werden.

Grundidee eines solchen „contrat national“ wäre also die Gleichberechtigung aller Gruppen in einem langfristigen und friedlichen Wettbewerb um die jeweils günstigste Form des Zusammenlebens. Die Minderheit sollte dabei der immer noch offenen Option auf eine höhere Form der Selbstbestimmung voll vertrauen können und somit in die Lage versetzt werden, ihre im Emotionalen liegenden Existenzängste aufs Eis zu legen; während das Mehrheitsvolk eine faire Chance zur Demonstration seiner Minderheitenfreundlichkeit und der materiellen Vorteile einer weiteren Integration erhielte und damit die volle Loyalität der Minderheit erwerben könnte.

Neue Wege im neuen Europa

All dies mag manchen als Utopie erscheinen. Es sei daher erlaubt, in Vorwegnahme einer kritischen Diskussion einige Argumente anzuführen, die die Sorgen vor einem exzessiven Gebrauch der Selbstbestimmung – als die wohl gewichtigsten Bedenken – zerstreuen und den aufgezeigten Weg auch als gangbar erweisen dürften:

Angenommen, es bestehe die Absicht, die Option auf Selbstbestimmung tatsächlich in friedlicher Weise bis zur Sezession voll zu nutzen: Dann wäre wohl zu hinterfragen, ob die Vorbehalte gegenüber dem Gedanken der Selbstbestimmung nach dem Wendejahr 1989, dem Wegfall der großen militärischen Konfrontation und der Eröffnung einer EU-Beitrittsperspektive für Osteuropa überhaupt noch zeitgemäß sind. Wenn man den Gedanken der Demokratie ernst nimmt, sollte Erich Fromms »Sein«jedenfalls auch auf der Ebene von Staaten gegenüber dem »Haben« der Vorzug zukommen.

Selbst das extrem unwahrscheinliche Szenario der massenweisen Eskalation von Selbstbestimmungen bis hin zur Sezession der meisten Minderheiten Europas stündeder weiteren Entwicklung Europas nicht notwendigerweise im Wege; eine Fragmentierung Europas würde die klassischen Führungsmächte im Westen ziemlich ungeschoren lassen (die meisten Minderheiten-Situationen liegen ja in Osteuropa), und auch das Beispiel des Heiligen Römischen Reichs ist nicht wirklich abschreckend:Von 1648 bis 1806 gingen die wenigen Kriege jedenfalls nicht von seinen über 200 Kleinstaaten aus; und der größte Nachteil dieses Reichs, nämlich die vielen Zollgrenzen, wäre in einem Europäischen Binnenmarkt gegenstandslos.

Davon abgesehen sprechen aber auch gewichtige Argumente dafür, daß von einem Sezessionsrecht kaum Gebrauch gemacht werden dürfte:

– Hier wären vor allem die hohen Kosten staatlicher Souveränität zu nennen; selbst das besonders reiche Luxemburg kann sich nicht genügend Beamte leisten, um seine EU-Mitgliedschaft ohne Personalunterstützung durch Belgien und die Niederlande zu bewältigen.

– Dann wäre auch die häufig gegebene Problematik der »Minderheit innerhalb der Minderheit« zu berücksichtigen: Wie die Situation der Italiener in und um Bozenzeigt, provoziert schon die Einräumung einer Territorial-Autonomie für ein Minderheitenvolk den Appetit auf eine analoge Sub-Autonomie für Angehörige des Mehrheitsvolkes, die in Teilen des autonomen Gebietes die Mehrheit bilden. Im Falle derSezession wären solche Bestrebungen kaum zu bremsen; das skizzierte System einer stufenweisen Selbstbestimmung müßte dann reziproke Anwendung finden – ein Gedanke, der die »erste« Minderheit zu besonderem Augenmaß in ihren Forderungen veranlassen sollte.

– Auch die Sorge, daß die Einräumung einer gut ausgestatteten Territorial-Autonomie den Appetit der Minderheit auf noch mehr Zugeständnisse des Mehrheitsvolkes wecken könnte, hat sich im bisher erfolgreichsten Fall der Befriedung eines gravierenden Minderheitenproblems in Europa, nämlich in Südtirol, als grundlos erwiesen. Bezeichnend ist da eine von der Südtiroler illustrierten „FF“ am 30.Oktober 1993 veröffentlichte demoskopische Umfrage, wonach – eineinhalb Jahre nach dem Paket-Abschluß und unmittelbar vor den Landtagswahlen – sich unter den acht vordringlichsten Aufgaben der Politik keine einzige Frage befand, die direkt oder auch nur indirekt mit Selbstbestimmung und Minderheitenschutz zu tun hatte.

Richtig dürfte aber wohl sein, daß diese Politik einer »Selbstbestimmung ohneEmotionen« zu einer gehäuften Errichtung von Territorial-Autonomien führen würde.Dies wäre aber grundsätzlich weder ein sachlicher Nachteil für Minderheit undMehrheitsvolk, noch müßte dies von letzterem als emotionale Niederlage verbucht werden; vielmehr könnte die von einer Minderheit geforderte Einrichtung einer Territorial-Autonomie auch in den Kontext einer aus demokratiepolitischen Gründen notwendigen allgemeinen Verfassungsreform in Richtung Devolution zentralstaatlicher Befugnisse gestellt werden. Der klassische Zentralstaat Spanien ist auf diesemWeg bereits weit fortgeschritten, auch das französische Elsaß und Lothringen haben davon schon profitiert. In Großbritannien hat die Diskussion um Devolution fürSchottland und Wales voll eingesetzt, und Italien scheint diese Entwicklung nun überNacht nachholen zu wollen.Und schließlich gibt es bereits ein von zwei europäischen Staaten vereinbartesModell, das in seinem Kern dieser Grundidee sehr nahe kommt; es ist dies die von den Regierungschefs Großbritanniens und Irlands im Dezember 1993 verabschiedete»Downing-Street-Declaration“ zum Nordirland-Konflikt (de facto wohl der mitAbstand längste und blutigste Minderheitenkonflikt im demokratischen Europa), die mit einem im Februar 1995 vereinbarten »Framework Document« noch weiter ausgeführt wurde. Auch hier ist man um Kalmierung von Emotionen bemüht und hat zu diesem Zweck zunächst eine besondere Autonomieform ins Auge gefaßt; gleichzeitig hat man aber – wohl wissend, daß das katholische Element Nordirlands in nicht allzu ferner Zukunft dort die Mehrheit bilden dürfte – die Option auf ein demokratisch selbstbestimmte „United Ireland“ statuiert. Zwar ist der 1994 nach 25 JahrenBürgerkrieg ausgerufene Waffenstillstand mittlerweile von der IRA wegen angeblicher Wortbrüchigkeit der britichen Regierung wieder gekündigt worden und scheinen die im Juni 1996 aufgenommenen Allparteienverhandlungen auf der Stelle zutreten, doch werden die Grundzüge dieses Modells heute – sieht man von der kleineren Protestantengruppe um den erzreaktionären und bizarren Reverend lan Paisley ab – von keiner Seite mehr ernstlich in Frage gestellt.

Quod erat demonstrandum